Prof. Dr. Christian Wiedermann empfiehlt Risikogruppen eine Auffrischungsimpfung im Sommer. „Nach aktuellem Wissensstand kann berechtigt davon ausgegangen werden, dass die Impfung von Personen mit Risikofaktoren auch bei einer Ansteckung mit der Omikron-Variante BA.5 von Vorteil für die Bevölkerung und das Gesundheitssystem ist“, betont Prof. Wiedermann, Koordinator der Forschungsprojekte am Institut für Allgemeinmedizin und Public Health in Bozen.
Ein Interview von Patrick Rina, 15. Juli 2022
Patrick Rina: Herr Prof. Wiedermann, warum ist die 4. Impfdosis für Über-60-Jährige und für fragile Bevölkerungsgruppen schon jetzt im Sommer ratsam?
Christian Wiedermann: Die beste Antwort auf diese Frage haben die EU-Behörden wohl selbst gegeben. Es kann nach dem aktuellen Wissensstand berechtigt davon ausgegangen werden, dass die Impfung einer erweiterten Zahl von Personen mit bekannt höherem Risiko für relevante Erkrankungsverläufe auch im Falle der Infektion mit Omikron BA.5 in der aktuellen Corona-Sommerwelle von Vorteil für die Bevölkerung und die Gesundheitssysteme ist.
Das Bild rund um die BA.4- und BA.5-Subvarianten von Omikron ist sehr verwirrend, da die Zahl der Infektionsfälle bei uns durch BA.5 in die Höhe getrieben wird, schwere COVID-19-Erkrankungfälle aber auf niedrigem Stand geblieben sind – niedriger als früher in der Pandemie. Grund dafür scheint zu sein, dass die Omikron-Subvarianten zwar schützende Antikörper umgehen können, die wir durch Impfung und/oder Infektion gebildet haben, nicht jedoch die zelluläre Immunität, die ja auch hergestellt worden ist. Das Verständnis der beiden Komponenten der Immunantwort – Antikörper und zelluläre Immunreaktion – kann uns helfen, den Stand der Pandemie und künftige Auffrischungsmöglichkeiten besser zu verstehen.
Neutralisierende Antikörper (wie z. B. Immunglobulin A (IgA), der in Nase und Mund am häufigsten vorkommende Schleimhaut-Antikörper, und IgG, der häufigste Antikörper im Blutkreislauf) werden nach Impfung und Infektion gebildet und stellen unsere erste COVID-19-Abwehrlinie in der Nasenschleimhaut dar. Die Omikron-Subtypen BA.4 und BA.5 sind nun nicht nur übertragbarer (sie dringen besser in Körperzellen ein), sondern entgehen zudem auch den neutralisierenden Antikörpern. Daher kommt es häufiger zu leichten Infektionen der oberen Atemwege. Zum Glück verlässt sich unser Immunsystem nicht nur auf Antikörper, um uns vor Ansteckungen zu schützen.
Der Schutz ist besonders auf die zelluläre Immunität gegen das Virus zurückzuführen, sodass die Rate schwerer Erkrankungen durch BA.4/BA.5 niedrig bleibt. B- und T-Zellen schützen uns vor schweren Erkrankungen. T-Zellen sind weiße Blutkörperchen, die zu unserem Immunschutz gehören. Nur B-Zellen sind in der Lage, Antikörper zu produzieren.
Durch die Impfung werden sowohl die Antikörperspiegel als auch die zelluläre Immunität wieder angehoben und damit der sofortige Schutz gegen leichte Infektionen mit Omikron wie auch der Schutz gegen schwere Infektionen, die ja jetzt schon zur Zunahme der Krankenhausaufenthalte führen und vor denen wir uns besonders dann in Acht nehmen müssen, wenn wieder die kältere Jahreszeit beginnt.
Teilen Sie die Einschätzung des Berliner Immunologen Prof. Andreas Radbruch, wonach der 4. Stich bei den Jüngeren keinen Vorteil für die Immunität bringe? Man werde sich genauso oft anstecken wie bei drei Impfungen, betont der Mediziner der Charité.
Die schützende Immunantwort – Antikörper und zelluläre Immunität – ist nicht bei allen Menschen gleich gut ausgeprägt. Diese Antwortstärke nimmt mit dem Lebensalter ab und ist bei chronischen Erkrankungen, bei Therapien, die das Immunsystem beeinflussen, sowie bei anderen Risikofaktoren schwächer, darunter beispielsweise auch das Übergewicht (Body Mass Index >30). Es kann gut sein, dass sich Jüngere mit guter Immunantwort nach einer zweiten Auffrischungsimpfung genauso oft anstecken wie nach nur einer Auffrischung. Das ist auch der Grund für die nach Risiko abgestufte Empfehlung der Gesundheitsbehörden.
Unsere Immunität wächst sowohl durch natürliche Infektionen als auch durch Impfungen. So bieten beispielsweise Zweifach-Impfstoffe wie jene von AstraZeneca, Pfizer und Moderna bei den Varianten BA.4 und BA.5 nach wie vor einen hohen Schutz vor schweren Erkrankungen. Wozu also Auffrischungsimpfungen für alle? Angesichts der Virusentwicklung ist heute davon auszugehen, dass nur diejenigen „vollimmunisiert“ sind, die zusätzlich zum Zweifach-Impfstoff auch eine Auffrischungsdosis erhalten haben. Und Tatsache ist, dass viele Menschen in Südtirol die dritte Dosis noch nicht verabreicht bekommen haben.
Weshalb müssen zwischen der 3. und der 4. Dosis mindestens 120 Tage vergehen?
Eine Auffrischungsimpfung erhöht die Antikörper nur vorübergehend und diese Wirksamkeit lässt nach wenigen Monaten nach. Außerdem ist eine Auffrischungsimpfung gegen den ursprünglichen Virusstamm bei der Neutralisierung von BA.4 und BA.5 weniger wirksam. Es ist daher wichtig, dass die wiederholte Impfung so verabreicht wird, dass eine maximal mögliche Antikörperproduktion erreicht wird. Klinische Untersuchungen haben gezeigt, dass es für die Effizienz der Auffrischung einen Zeitrahmen gibt, der nicht unterschritten werden soll. Andererseits soll wegen des Rückgangs des Immunschutzes durch die Antikörper nicht eine sog. „Impflücke“ entstehen, in der der mögliche Schutz nicht mehr gegeben ist. Deswegen sind derzeit die 120 Tage empfohlen. Der optimale Zeitpunkt hängt vom Alter, der Anzahl der erhaltenen Dosen, dem Expositionsrisiko und dem Gesundheitszustand ab. Eine zwischenzeitig aufgetretene Durchbruchinfektion verändert zwar die empfohlenen Zeitintervalle, nicht jedoch die allgemein angestrebte Zahl der Impfdosen zur Vollimmunisierung. Es kann gut sein, dass sich der empfohlene Zeitraum für bestimmte Risikogruppen noch verkürzt und die Empfehlung angepasst werden muss. Derzeit sind die 120 Tage stimmig.
Bei der 4. Impfung kommen die mRNA-Impfstoffe von Pfizer und Moderna zum Einsatz. Wurden/werden diese Impfstoffe an die neuen Omikron-Subvarianten angepasst? Oder handelt es sich um die „alten“ Impfstoffe?
Pfizer hat einen BA.4/BA.5-spezifischen mRNA-Impfstoff für Oktober versprochen, und Moderna hat einen bivalenten Impfstoff, der BA.4/BA.5 mRNA-Sequenzen enthält, etwa zur gleichen Zeit angekündigt. Ein Impfstoff, der spezifisch die Antikörper gegen den am weitesten verbreiteten zirkulierenden Stamm BA.5 erhöht, dürfte als Auffrischungsimpfung vor allem für Personen wichtig sein, die für schwere Durchbruchsinfektionen prädisponiert sind. Das sind beispielsweise Personen mit geschwächtem Immunsystem oder ältere Menschen mit mehreren Erkrankungen.
Antikörper und zelluläre Immunität sind nicht bei allen Menschen gleich gut ausgeprägt. Diese Immunstärke nimmt mit zunehmendem Alter ab und ist bei chronischen Erkrankungen (Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz und Folgen eines Herzinfarkts, Lungenerkrankungen, Niereninsuffizienz, Tumorerkrankungen, Leberkrankheiten und schwere neurologische Leiden), bei Behandlungen, die das Immunsystem beeinflussen, sowie bei anderen Risikofaktoren schwächer (darunter auch das Übergewicht).
BA.4/BA.5-spezifische Auffrischungsimpfstoffe dazu beitragen, leichtere Infektionen bei vielen Personen zu verhindern. Schließlich sollte jede Auffrischungsimpfung die T-Zell-Reaktionen auf das Virus diversifizieren und erweitern, und eine Auffrischungsimpfung wird auch die Potenz der B-Zellen erhöhen – die beiden „Player“ in der zellulären Immunität, so dass diese besser auf die neuesten Subvarianten reagieren können, während wir weiterhin mit COVID-19 leben.
Kann die 4. Impfdosis die aktuelle Corona-Sommerwelle brechen und verschiedenen Herbst-Wellen vorbeugen?
Die leichten Infektionsverläufe stehen in dieser Sommerwelle natürlich im Vordergrund. Die 4. Impfdosis verbessert nach wenigen Tagen die genau dafür wichtigen Antikörperspiegel, die BA.5 und BA.5 zwar besser umgehen, aber in Summe doch nicht ganz unbeeinträchtigt lassen. Zudem ist die BA.5-Variante zwar dominierend, aber es gibt nach wie vor das Virus des Typs BA.2 im Umlauf, das durch die spezifischen Antikörper noch stärker neutralisiert. Die Vorbeugung der zu erwartenden Herbst-Wellen ist darauf zurückzuführen, dass die T-Zell-Immunität der Impfstoffe bei allen Varianten von Alpha bis Omikron erhalten bleibt. T-Zellen vermehren sich als Reaktion auf ein Stück des Virus spezifisch und tragen wegen des immunologischen Gedächtnisses auch nach Monaten dazu bei, dass Zellen den Krankheitserreger direkt angreifen. Unsere zelluläre Immunantwort ist selbst bei einem zusätzlich mutierten Spike-Protein wie bei BA.5 so robust, dass Omikron bisher nicht in der Lage war, den vielen T-Zellen (die wir wegen der Impfungen und der Infektion produzieren) zu entgehen.
Was versprechen Sie sich vom neuen proteinbasierten Booster-Impfstoff HIPRA?
Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) wickelt ein Zulassungsverfahren für den Impfstoff PHH-1V des spanischen Herstellers HIPRA ab, der durch zwei Komponenten des Spike-Proteins als Booster den Impfschutz gegen SARS-CoV-2 auffrischen soll. Es handelt sich um einen von insgesamt 42 Impfstoffen, die aktuell in Entwicklung sind. Booster-Impfungen werden mittlerweile für Menschen ab dem 5. Lebensjahr empfohlen. Dabei wird nach der Grundimmunisierung (zumeist mit zwei Dosen) ein Wechsel auf einen anderen Impfstoff als möglicherweise sinnvoll erachtet. Das Coronavirus neutralisierende Antikörperspiegel sind nach einer Auffrischungsimpfung mit einem anderen – einem sog. heterologen – Impfstoff mindestens gleich hoch, oft aber höher gewesen. Die Entscheidung für einen Wechsel kann von der Schwere der Impfreaktionen abhängig gemacht werden, weil bei heterologer Booster-Impfung auch tendenziell häufiger Impfreaktionen beobachtet wurden. Vom HIPRA-Impfstoff erwarte ich mir keine überraschend stärkere Wirksamkeit, weil es insgesamt zwischen den bei uns zugelassenen verschiedenen Impfstoffen schon wenig quantitative Unterschiede gegeben hat.
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