Ein pandemieresistentes Gesundheitssystem bedarf einer gut funktionierenden primärmedizinischen Versorgung, das zeigt eine Analyse des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health.
Vor fast genau zwei Jahren erreichte die erste Corona-Welle Italien, vor allem die Lombardei wurde schwer getroffen. Über Wochen befand sich die norditalienische Region im medizinischen Ausnahmezustand und verzeichnete eine hohe Sterblichkeit im Zusammenhang mit Covid-19.
War die Pandemie-Entwicklung in der Lombardei nur Zufall oder ist die Notlage auch auf die medizinische Grundversorgung und die Organisation der Krankenhäuser zurückzuführen?
Die Wissenschaftlerin am Institut für Allgemeinmedizin und Public Health der Landesfachhochschule für Gesundheitsberufe Claudiana, Barbara Plagg, hat gemeinsam mit den Wissenschaftlern Giuliano Piccoliori, Jörg Oschmann, Adolf Engl und Klaus Eisendle eine Analyse zum Thema verfasst. Das Policy Paper mit dem Titel„Primary Health Care and Hospital Management During COVID-19: Lessons from Lombardy“, das im September 2021 in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht wurde, kam zu folgendem Ergebnis:
Je stärker die primärmedizinische Basis (= Hausarztdichte) eines Gesundheitssystems, desto krisenresilienter ist das gesamte System. Privatisierungen im Gesundheitsbereich und Einsparungen in der Basismedizin sind hingegen schlechte Voraussetzungen für die Pandemiebewältigung.
Beispiel Lombardei
Barbara Plagg und ihr Team haben für ihr Paper die Situation in der Lombardei untersucht, da die Region als fortschrittlich und innovativ gilt und trotzdem von der ersten Welle der Corona-Pandemie schwer getroffen wurde. Trotz der Einsparungen im vergangenen Jahrzehnt liegt die Zahl der Krankenhausbetten in der Lombardei etwas über dem staatlichen Durchschnitt: 3 Betten pro 1.000 Einwohner:innen. Die Region verfügt zudem über 26 herausragende wissenschaftliche Institutionen.
„Die Lombardei hatte natürlich besonders Pech und ist mit vielen ersten Fällen in eine Pandemie gestartet, von der man noch wenig wusste, aber insgesamt haben gesundheitspolitische Rahmenbedingungen wie Hausarztdichte und Krankenhausmanagement innerhalb der Region deutlich auf den weiteren Pandemieverlauf eingewirkt“
Barbara Plagg, Wissenschaftlerin am INstitut
Für die Analyse hat das Forschungsteam die vorliegende Literatur zu den Gesundheitsstrukturen der Lombardei und den benachbarten Regionen vor Beginn der Pandemie analysiert. Diese Daten wurden dann mit dem jeweiligen Pandemie-Verlauf verglichen.
Die Hausarztdichte ist in der Lombardei geringer, als in der benachbarten Region Venetien. Laut dem Forschungsteam führte dieser Umstand während der ersten Corona-Welle im März 2020 dazu, dass infizierte Erkrankte in der Lombardei schneller das Krankenhaus aufsuchten. Ein Blick auf die Hospitalisierungsrate in diesem Zeitraum macht die unterschiedlichen Auswirkungen deutlich:
In Venetien wurden 20 Prozent der Corona-Patient:innen im Krankenhaus betreut, in der Lombardei lag die Hospitalisierungsrate der Infizierten hingegen bei 66 Prozent.
„In einer Pandemie geht es weniger darum, hochspezialisierte, innovative Einzelbetreuung zur Verfügung zu stellen, sondern es braucht eine breite, effiziente Gesundheitsversorgung, die auch unter Druck nicht kollabiert“, so Barbara Plagg. Die Wissenschaftlerin fügt hinzu:
„Nur ein stabiles System kann die Patient:innen abfangen, bevor sie ins Krankenhaus kommen.“
Barbara Plagg, Wissenschaftlerin am INstitut
Abgesehen von der primärmedizinischen Versorgung hat sich auch das Krankenhausmanagement auf die Krisensituation ausgewirkt. Auf Grund von Einsparungen sind in der Lombardei die klassischen Krankenhausbereiche in den Jahren vor Ausbruch der Corona-Pandemie abgeschafft worden. Die neuen sogenannten Makrobereiche (intensità di cura), in denen die Patient:innen nicht nach unterschiedlichen medizinischen Fachbereichen, sondern nach der Komplexität der Erkrankung und dem daraus resultierenden Pflegebedarf untergebracht werden, erwiesen sich während der ersten Pandemie-Welle als unvorteilhaft, da sie die Ausbreitung des Virus unter Patient:innen und Mitarbeiter:innen potenziell begünstigen.
Im Nachhinein zeigen die Zahlen, dass die Lombardei im Frühling 2020 weniger Infektionen mit SARS-CoV-2 gezählt hatte (9,9%), als die Nachbarregion Venetien (11,7%). Die Letalität lag in der Lombardei allerdings bei 3,5 Prozent und damit 1,4 Prozentpunkte höher als in Venetien (2,1%).
Auch die Privatisierung von Gesundheitsleistungen wirkte sich in der Lombardei nicht positiv auf die Pandemiebewältigung aus. Bereits aus Studien zum Umgang mit anderen Infektionskrankheiten, wie z.B. Tuberkulose, ist bekannt, dass private Gesundheitssysteme nicht dafür geeignet sind, Infektionskrankheiten in den Griff zu kriegen.
Südtirol
Südtirol zählte während der ersten Corona-Welle 1,3 Todesfälle pro 100 Infizierte. Damit war die Letalität niedriger als in den untersuchten Regionen Lombardei (3,5%) und Venetien (2,1%). Für den Allgemeinmediziner und wissenschaftlichen Leiter des Instituts, Giuliano Piccoliori, ist das ein gutes Ergebnis:
„Dank der hausärztlichen Versorgung konnten vor allem auf dem Land viele Patient:innen zuhause versorgt werden, die Krankenhäuser wurden dadurch entlastet“
Giuliano Piccoliori, Allgemeinmediziner und wissenschaftlichen Leiter des Instituts
Fazit
„Die Primärmedizin ist sozusagen die vorderste Front im Krieg gegen die Pandemie und wenn diese fällt, gehen die Menschen ins Krankenhaus. Dort wiederum wird man in einer Pandemie je nach Organisationsform früher oder später an die Belastungsgrenze stoßen und im ungünstigsten Fall durch ein unzureichendes Hygiene- und Gesundheitsmanagement neue Infektionsketten lostreten“, fasst Barbara Plagg zusammen.
Die Primärmedizin ist sozusagen die vorderste Front im Krieg gegen die Pandemie.
Hausärztinnen und Hausärzte spielen deshalb für die Pandemie-Bewältigung eine zentrale Rolle. Mitautor und Präsident des Instituts, Adolf Engl, fügt hinzu: „Es ist auch in normalen Zeiten problematisch, die Primärmedizin zu vernachlässigen, in Zeiten der Pandemie kann dieses Versäumnis zum Kollaps des Systems führen.“
Anders gesagt: Je stärker die Basis (ausreichend Hausärztinnen und Hausärzte, gute Vernetzung zwischen Allgemeinmediziner:innen, Krankenhäusern und Hygienediensten), desto krisenresilienter ist das Gesundheitssystem.
Laut der Untersuchung hat sich das Gesundheitssystem der Region Venetien während der ersten Pandemie-Welle am besten bewährt, sagt der Allgemeinmediziner und wissenschaftliche Leiter des Instituts, Giuliano Piccoliori: „In Venetien wurde versucht, Patient:innen über die Primärmedizin abzufangen, noch bevor sie ins Krankenhaus kamen. Ein Kollaps der krankenhäuslichen Versorgung und eine Virusverbreitung innerhalb der Kliniken konnten in Venetien somit vielfach verhindert werden“.
Die Region Venetien habe in den vergangenen zehn Jahren, durch die Förderung der Zusammenarbeit, des Pflegepersonals und der Verwaltungsmitarbeiterinnen, die Organisation der Allgemeinmedizin verbessert, bestätigt der Allgemeinmediziner und Präsident der Italienischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SIMG) in Venetien, Maurizio Cancian. „Durch die Ausweitung der Praxis-Öffnungszeiten und weitere Maßnahmen, haben wir den Zugang zu den Praxen verbessert und die Arbeit der Hausärztinnen und Hausärzten ist effizienter geworden. Gleichzeitig sind Hausärzte und Hausärztinnen ein wichtiger Bezugspunkt für die Bevölkerung geblieben“, fügt Cancian hinzu.
Fünf Handlungsvorschläge
● Um eine Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern und die Virusverbreitung innerhalb der Krankenhäuser zu verringern, müssen die Zugänge ins Krankenhaus besonders über die Notaufnahme limitiert werden. Weiße und Grüne Codes müssen, soweit möglich, von den Hausärztinnen und Hausärzten versorgt werden.
● Damit Hausärztinnen und Hausärzte diese Aufgabe leisten können, müssen sie bei bestimmten Aufgaben vom Verwaltungspersonal sowie von Pflegekräften entlastet werden. Wegen der Zunahme der fachärztlichen Wartezeit während der Pandemie, leisten zunehmend die Allgemeinmediziner:innen die Betreuung der chronisch kranken Patient:innen. Durch die Finanzierung von Praxismitarbeiter:innen und Instrumentaldiagnostik können die Allgemeinmediziner:innen entlastet werden.
● Eine gute Kooperation zwischen den unterschiedlichen Ebenen der Gesundheitsversorgung, also zwischen Allgemeinmediziner:innen und Fachärzten, wirkt sich im pandemischen Notfall positiv auf das ganze System aus.
● Die Virusverbreitung innerhalb des Krankenhauses kann durch adäquate Hygienemaßnahmen und ein gutes Gesundheitsmanagement verhindert werden.
● Ein für alle Einkommensklassen zugängliches Gesundheitssystem ist krisenresistenter als als ein privatisiertes, das hat sich während der ersten Corona-Welle gezeigt. Gerade weil weniger gut bezahlte Berufe, wie Kassierer:in oder Busfahrer:in während einer Pandemie ein höheres Ansteckungsrisiko haben, ist ein schneller Zugang zum Gesundheitssystem notwendig.
Link zum englischen Originalartikel
Plagg B, Piccoliori G, Oschmann J, Engl A, Eisendle K. Primary Health Care and Hospital Management During COVID-19: Lessons from Lombardy. Risk Manag Healthc Policy. 2021 Sep 24; 14:3987-3992: doi: 10.2147/RMHP.S315880. ECollection 2021.
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