Herr Prof. Wiedermann, wie viele Studien zum Impfverhalten und zur Impfzögerlichkeit in Südtirol wurden durchgeführt? Wann und von wem wurden die Daten erhoben?
Prof. Dr. Christian Wiedermann: In Südtirol wurden drei Hauptstudien von der Forschungsgruppe des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen, zusammen mit dem ASTAT und dem Forum Prävention, durchgeführt. Diese fanden während und gegen Ende der COVID-19-Pandemie 2021 und 2023 statt und zielten darauf ab, das Impfverhalten und die Gründe für Impfzögerlichkeit zu untersuchen. Es handelte sich um zwei quantitative Studien, die Einstellungen zur Impfung erfassten, und um eine qualitative Studie, die tiefergehende Einblicke in Impfzögerlichkeit lieferte. Diese Arbeiten decken ein breites Spektrum an Faktoren ab, die das Impfverhalten in Südtirol beeinflussen.
Welches Bild Südtirols und seiner Bevölkerung kann anhand der durchgeführten Studien gezeichnet werden?
Christian Wiedermann: Die Studien zeigen, dass Südtirol aufgrund seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt vor speziellen Herausforderungen bezüglich Impfzögerlichkeit steht. Faktoren wie Misstrauen gegenüber Gesundheitsinstitutionen und Desinformation tragen dazu bei. Insbesondere die unterschiedlichen Sprachgruppen erfordern eine angepasste Kommunikation. Die Forschung unterstreicht die Bedeutung von Bildung und vertrauensbildenden Maßnahmen, um die Akzeptanz von Impfungen zu erhöhen. Maßgeschneiderte Gesundheitsstrategien sind notwendig, um das Vertrauen in Impfungen insbesondere bei skeptischen Gruppen zu stärken und somit die Impfraten in der gesamten Bevölkerung zu verbessern.
Kann die Corona-Pandemie als Zäsur im Impfverhalten der Südtiroler:innen bezeichnet werden?
Christian Wiedermann: Die Corona-Pandemie markierte in Südtirol eine entscheidende Zäsur im Impfverhalten, schärfte das Bewusstsein für Impfungen und zeigte spezifische Akzeptanzherausforderungen auf, vor allem bei der Einführung der COVID-19-Impfstoffe. Trotz global hoher Akzeptanz blieben in Südtirol Herausforderungen bestehen. Interessanterweise dürfte die Impfskepsis 2023 im Vergleich zu 2021 und den Vorjahren noch zugenommen haben – ein Phänomen, das wohl mit anhaltendem Vertrauensverlust in die Gesundheitspolitik aufgrund der Pandemieerfahrungen zusammenhängt. Die Pandemie unterstrich die Bedeutung zielgerichteter Kommunikations- und Bildungsinitiativen zur Überwindung von Impfzögerlichkeit für die Entwicklung zukünftiger Strategien, die nicht nur die Impfraten erhöhen, sondern auch das Vertrauen in das öffentliche Gesundheitssystem.
Welche gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Faktoren bedingen oder beeinflussen das Impfverhalten der Bürger:innen in Südtirol?
Christian Wiedermann: Das Impfverhalten in Südtirol wird stark von gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Faktoren beeinflusst. Bildung und der Zugang zu verlässlichen Informationen spielen eine zentrale Rolle. Niedrigeres Bildungsniveau führt oft zu mehr Impfzögerlichkeit. Die Vielfalt Südtirols erfordert kultursensible und mehrsprachige Kommunikation, um die unterschiedlichen Einstellungen der Sprachgruppen zu berücksichtigen. Politische Faktoren, wie das Vertrauen in Gesundheitsbehörden und die autonome Stellung Südtirols, beeinflussen ebenfalls die Impfbereitschaft. Diese Dynamiken betonen die Notwendigkeit individuell angepasster Strategien, um die Impfraten in Südtirol zu erhöhen.
Warum verlassen sich viele Südtiroler:innen bei der Entscheidung für oder gegen das Impfen auf Informationen aus ihrem privaten/familiären Umfeld?
Christian Wiedermann: Viele Südtiroler:innen stützen ihre Impfentscheidungen auf Informationen aus ihrem privaten Umfeld, was durch Vertrauen, kulturelle Identität und soziale Normen bedingt ist. Das starke Vertrauen in nahestehende Personen – verstärkt durch Skepsis gegenüber offiziellen Quellen – und der Wunsch nach Gruppenkonformität, fördern die Bevorzugung vertrauter Informationsquellen. In einer Region, in der sprachliche und kulturelle Zugehörigkeit für die Identität vieler Menschen prägend sind, wird diese Tendenz noch verstärkt. Diese Dynamiken zeigen die Notwendigkeit auf, Aufklärungskampagnen maßgeschneidert und kultursensibel zu gestalten, um das Vertrauen in Impfungen zu erhöhen.
Begünstigt ein höheres Bildungsniveau das Bejahen von Impfungen?
Christian Wiedermann: Ein höheres Bildungsniveau fördert die Akzeptanz von Impfungen, da gebildetere Personen wissenschaftliche Informationen besser verstehen und bewerten können. In Südtirol zeigt sich, dass Personen mit höherer Bildung seltener Impfskepsis aufweisen, dank besserem Zugang zu zuverlässigen Informationen und einer größeren Fähigkeit, Desinformation zu erkennen. Diese Erkenntnisse betonen die Wichtigkeit von Bildung als Mittel zur Steigerung der Impfbereitschaft und zum Schutz der öffentlichen Gesundheit.
Sind Impfverhalten und Impfskepsis altersabhängig?
Christian Wiedermann: Ja, Impfverhalten und -skepsis variieren mit dem Alter. Jüngere zeigen mehr Impfzögerlichkeit – oft beeinflusst durch die Nutzung sozialer Medien – und eine geringere Risikowahrnehmung. Ältere vertrauen hingegen eher traditionellen Medien und erkennen den Nutzen von Impfungen an, was ihre höhere Impfbereitschaft erklärt. Auch diese Unterschiede unterstreichen die Notwendigkeit zielgruppenorientierter Aufklärungsstrategien, um die Impfbereitschaft in jeder Bevölkerungsgruppe zu steigern – ein Ansatz, der sowohl in Südtirol als auch weltweit relevant ist.
Welche Rolle spielt die Mediennutzung der Bürger:innen?
Christian Wiedermann: Die Mediennutzung beeinflusst entscheidend das Impfverhalten. Im digitalen Zeitalter, in dem Information und Desinformation leicht zugänglich sind, spielt der Medienkanal eine große Rolle bei der Formung von Einstellungen zu Impfungen. Personen, die sich hauptsächlich über soziale Medien und das Internet informieren, sind möglicherweise stärker Desinformationen und impfkritischen Botschaften ausgesetzt. Die Algorithmen sozialer Netzwerke neigen dazu, Nutzer:innen mit Inhalten zu versorgen, die ihre bestehenden Überzeugungen bestätigen, was zur Bildung von Echokammern führen kann, in denen skeptische Ansichten verstärkt werden. Nutzer sozialer Medien sind öfter Desinformationen ausgesetzt, die bestehende Überzeugungen verstärken können, während traditionelle Medien eher ausgewogene, fachlich fundierte Informationen bieten. Dies betont die Notwendigkeit, Medienkompetenz zu fördern, um verlässliche Quellen erkennen zu können und verständliche, kultursensible Impfinformationen bereitzustellen, um Gesundheitskompetenz aufzubauen und die Impfbereitschaft zu erhöhen.
Konnte die Studie wesentliche Unterschiede zwischen dem Impfverhalten der deutschsprachigen und jenem der italienischsprachigen Bevölkerungsgruppe in Südtirol feststellen? Wurde auch das Impfverhalten der ladinischen Sprachgruppe erfasst?
Christian Wiedermann: Studien in Südtirol zeigten, dass deutschsprachige Einwohner:innen eine höhere Impfzögerlichkeit aufweisen als italienischsprachige, was auf kulturelle und historische Unterschiede zurückzuführen sein könnte. Daten zur ladinischen Minderheit waren begrenzt, unterstreichen jedoch die Notwendigkeit, Gesundheitskampagnen auf alle Sprachgruppen abzustimmen, um inklusive und effektive Aufklärung zu gewährleisten.
Wie denken Bürger:innen im städtischen Umfeld, wie jene im ländlichen Raum über die Corona-Schutzimpfung bzw. über Impfungen im Allgemeinen?
Christian Wiedermann: Studien in Südtirol offenbaren eine stärkere Impfzögerlichkeit in ländlichen als in städtischen Gebieten, möglicherweise aufgrund eingeschränkten Zugangs zu Gesundheitsdiensten und verlässlichen Informationen. Soziale Netzwerke und die geringere Bevölkerungsdichte in ländlichen Regionen fördern die Verbreitung von Fehlinformationen und eine niedrigere Risikowahrnehmung für Infektionskrankheiten. Demgegenüber zeigt sich in Städten durch besseren Zugang zu medizinischen Einrichtungen und vielfältigen (z.T. anderssprachigen) Informationsquellen eine höhere Impfakzeptanz. Diese Unterschiede betonen die Bedeutung zielgerichteter Aufklärungsarbeit.
Welche Kommunikationsstrategien und Maßnahmen seitens der Gesundheitsbehörden und der Politik wären nötig, um möglichst viele Bürger:innen vom Vorteil der Impfungen zu überzeugen?
Christian Wiedermann: Zur Förderung der Impfbereitschaft sind zielgerichtete Maßnahmen basierend auf den Bedürfnissen der Bevölkerung essenziell. Wichtige Strategien umfassen:
- Kultursensible, mehrsprachige Informationen, um die vielfältige Bevölkerung zu erreichen.
- Transparenz über Sicherheit und Wirksamkeit von Impfstoffen, um Vertrauen aufzubauen.
- Einsatz lokaler Meinungsbildern:innen zur Stärkung des Vertrauens.
- Zielgruppenspezifische Kommunikationsstrategien, um auf spezifische Bedenken einzugehen.
- Bildungsinitiativen zur Förderung der Medienkompetenz und zur Reduzierung von Fehlinformationen.
- Nutzung digitaler Medien zur aktiven Verbreitung verlässlicher Informationen.
- Offener Dialog und Feedbackmöglichkeiten, um Bedenken direkt zu adressieren.
Diese Ansätze tragen dazu bei, die Impfakzeptanz zu steigern und die öffentliche Gesundheit zu schützen.
Können Hausärztinnen und Hausärzte dazu beitragen, Bürger:innen für das Impfen zu gewinnen?
Christian Wiedermann: Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin spielen eine zentrale Rolle bei der Förderung der Impfbereitschaft, da sie vertrauenswürdige Gesundheitsberater:innen sind. Sie können durch persönliche Beratung auf Bedenken eingehen, über Impfstoffe aufklären, als Vorbilder agieren und ihre Kommunikation an die Bedürfnisse der Patient:innen anpassen. Proaktive Informationen über Impftermine und der Einsatz von Erinnerungssystemen erhöhen die Impfraten. Darüber hinaus stärkt in Gruppenpraxen die Schulung des äzrtlichen Teams eine einheitliche und positive Kommunikation über Impfungen. Diese Maßnahmen tragen dazu bei, das Vertrauen in Impfungen zu stärken und leisten einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Gesundheit in Südtirol.
Könnte die impfskeptische bzw. -feindliche Haltung vieler Südtiroler:innen (z.B. Eltern) einer Masernepidemie im Frühjahr 2024 Tür und Tor öffnen?
Christian Wiedermann: Impfskepsis kann das Risiko einer Masernepidemie erhöhen, da für deren Verhinderung eine hohe Impfquote nötig ist. Die WHO empfiehlt eine Durchimpfungsrate von 95% für Herdenimmunität. In Südtirol, wo Impfskepsis verbreitet ist, sind die Impfraten allgemein und auch für Masern viel zu niedrig, was das Ausbruchsrisiko steigert. Aktuelle Masernfälle in den Nachbarregionen verdeutlichen die Gefahr. Daher ist es entscheidend, durch gezielte Aufklärung und klare Kommunikation Vertrauen in Impfungen zu stärken, um die Impfraten zu erhöhen und Epidemien vorzubeugen.
Fachartikel über die Impfstudien des Forschungsteams des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen:
- Wiedermann CJ, Barbieri V, Plagg B, Piccoliori G, Engl A. Vaccine hesitancy in South Tyrol: a narrative review of insights and strategies for public health improvement. Ann Ig. 2024 Mar 20. doi: 10.7416/ai.2024.2625.
- Barbieri V, Wiedermann CJ, Lombardo S, Piccoliori G, Gärtner T, Engl A. Vaccine Hesitancy and Public Mistrust during Pandemic Decline: Findings from 2021 and 2023 Cross-Sectional Surveys in Northern Italy. Vaccines (Basel). 2024 Feb 8;12(2):176. doi: 10.3390/vaccines12020176. PMID: 38400159; PMCID: PMC10892034.
- Barbieri V, Lombardo S, Gärtner T, Piccoliori G, Engl A, Wiedermann CJ. Trust in Conventional Healthcare and Utilization of Complementary and Alternative Medicine in South Tyrol, Italy: A Population-Based Cross-Sectional Survey. Ann Ig. 2024 Feb 22. doi: 10.7416/ai.2024.2605. Epub ahead of print. PMID: 38386023.
- Wiedermann CJ, Koler P, Tauber S, Plagg B, Psaier V, Barbieri V, Piccoliori G, Engl A. Unravelling Vaccine Scepticism in South Tyrol, Italy: A Qualitative Analysis of Personal, Relational, and Structural Factors Influencing Vaccination Decisions. Healthcare (Basel). 2023 Jul 1;11(13):1908. doi: 10.3390/healthcare11131908. PMID: 37444742; PMCID: PMC10341176.
- Piccoliori G, Barbieri V, Wiedermann CJ, Engl A. Special roles of rural primary care and family medicine in improving vaccine hesitancy. Adv Clin Exp Med. 2023 Apr;32(4):401-406. doi: 10.17219/acem/162349. PMID: 37093088.
- Barbieri V, Wiedermann CJ, Lombardo S, Plagg B, Piccoliori G, Gärtner T, Engl A. Age-Related Associations of Altruism with Attitudes towards COVID-19 and Vaccination: A Representative Survey in the North of Italy. Behav Sci (Basel). 2023 Feb 19;13(2):188. doi: 10.3390/bs13020188. PMID: 36829417; PMCID: PMC9951972.
- Barbieri V, Wiedermann CJ, Lombardo S, Plagg B, Gärtner T, Ausserhofer D, Wiedermann W, Engl A, Piccoliori G. Rural-Urban Disparities in Vaccine Hesitancy among Adults in South Tyrol, Italy. Vaccines (Basel). 2022 Nov 5;10(11):1870. doi: 10.3390/vaccines10111870. PMID: 36366378; PMCID: PMC9692501.
- Barbieri V, Wiedermann CJ, Lombardo S, Ausserhofer D, Plagg B, Piccoliori G, Gärtner T, Wiedermann W, Engl A. Vaccine Hesitancy during the Coronavirus Pandemic in South Tyrol, Italy: Linguistic Correlates in a Representative Cross-Sectional Survey. Vaccines (Basel). 2022 Sep 21;10(10):1584. doi: 10.3390/vaccines10101584. PMID: 36298448; PMCID: PMC9607221.
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