Die Corona-Infektionszahlen steigen in Südtirol seit Anfang Oktober stark an, zusätzlich werden Grippe-Viren zirkulieren. Viele Bürger:innen sind wegen der „australischen“ Influenza besorgt, schon in der letzten Grippesaison wurden Zweifach-Ansteckungen mit COVID-19 und Grippe festgestellt. Prof. Dr. Christian Wiedermann vom Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen beantwortet die wichtigsten Fragen zu einer möglichen „Doppelwelle“.
Was ist eine Twindemie?
Eine Twindemie ist eine Zwillingsepidemie (engl. twins = Zwillinge). Derzeit besteht die Gefahr einer Doppelwelle von Corona- und Grippeviren. „Im heurigen Herbst und Winter sind in Südtirol mehr gleichzeitige Ansteckungen mit verschiedenen Atemwegsviren möglich. Oft ist eine doppelte Infektion mit einer erhöhten Schwere der Erkrankung und einer erhöhten Sterblichkeit verbunden“, erklärt Prof. Dr. Christian Wiedermann, Internist und Koordinator der Forschungsprojekte des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. „In England wurden virale Doppelinfektionen bei ungefähr 8% der Corona-Patient:innen festgestellt. In solchen Fällen verdoppelt sich das Risiko, die Patient:innen mechanisch beatmen zu müssen“, betont Prof. Wiedermann. In den USA rechnen die Gesundheitsbehörden für die bevorstehende Grippewelle mit bis zu 50.000 Todesfällen durch Influenza. Dazu kommen in den USA noch 150.000 jährliche Corona-Todesfälle. Diese Zahl fußt auf der derzeitigen Omikron-Sterblichkeitsrate.
Wie gefährlich ist die „australische“ Grippe?
Seit Einführung der AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltag mit Maske) im März 2020 könnte die sehr geringe Verbreitung der Grippeviren die Immunität der Südtirolerinnen und Südtiroler geschwächt haben. Prof. Christian Wiedermann rechnet daher in der aktuellen Grippesaison mit einem Anstieg der Fallzahlen – auch wegen der „australischen“ Influenza-Erfahrung. In Australien ist eine Zunahme anhand der Grippe-Infektionsmeldungen über die letzten Jahre (untersuchter Meldezeitraum jeweils April–Juli) zu bemerken: „Im Jahr 2019 – also vor Pandemie-Ausbruch – gab es in Australien 153.000 Grippe-Meldungen, 2021 waren es nur etwas mehr als 400, 2022 hingegen wurden knapp 205.000 Influenza-Infektionen mitgeteilt. Die Ansteckungen nahmen im Vergleich zu 2019 um 25% zu“, rechnet Prof. Wiedermann vor. „Das Tragen der Masken und das Abstandhalten haben dem Grippevirus quasi den Nährboden entzogen, es konnte sich also nicht mehr im gewohnten Maße verbreiten. Für unser Immunsystem gab es weniger immunisierende Viruskontakte. Doch gerade diese Viruskontakte tragen – neben einer Schutzimpfung – zu unserem anhaltenden Immunschutz bei“, unterstreicht Wiedermann. Zugleich wurde seit Beginn der Corona-Ausnahmesituation weniger gegen Grippe geimpft. „Dadurch ist ein zusätzlicher Teil des Immunschutzes verloren gegangen. Aus diesen Gründen empfehle ich die Grippe-Impfung gerade jetzt dringend. Sie schützt auch vor der ,australischen’ Influenza-Variante“, sagt Prof. Wiedermann.
„Seit Ausbruch der Corona-Pandemie sind Grippe-Erkrankungen vielfach ausgeblieben. Daher unterschätzen sowohl die Öffentlichkeit als auch die politischen Entscheidungsträger:innen möglicherweise die potenziellen Grippe-Risiken und die Dringlichkeit der Influenza-Schutzimpfung für die Grippesaison 2022/23, insbesondere vor dem Hintergrund der allgemeinen Impfmüdigkeit in Südtirol.“
Prof. Christian Wiedermann
Ist eine Doppel-Impfung gegen Corona und Influenza sinnvoll?
Für alle Personen über 12 Jahren, die noch keinen 1. oder 2. Booster erhalten haben, ist die Corona-Impfung im Herbst 2022 in Südtirol möglich. „Alle Menschen sollten die Schutzimpfung auffrischen, wenn seit der Infektion oder seit der letzten Impfung 120 Tage vergangen sind. Das gilt unabhängig davon, ob sie sich seit Ausbruch der Pandemie mit COVID-19 infiziert haben“, erklärt Prof. Wiedermann. „Bei Erwachsenen ist die kombinierte Verabreichung der Influenza- und COVID-19-Impfung sicher und wirksam. Die gemeinsame Verabreichung hängt von einer reibungslosen Logistik ab. Für beide Impfungen gibt es unterschiedliche Mechanismen der Beschaffung und Erstattung. Die unvollständige geografische Abstimmung der Impfdienste erhöht die Komplexität“, sagt Wiedermann. Solange die logistischen Probleme nicht gelöst sind, werde es voraussichtlich bei getrennten Vormerkungen für beide Impfungen bleiben, gibt Prof. Christian Wiedermann zu bedenken.
Wer zählt in einer Twindemie zu einer Risikogruppe?
„Vor allem Menschen ab 65 Lebensjahren und Personen mit Grunderkrankungen weisen ein höheres Risiko für einen schweren Infektionsverlauf der Grippe und besonders nach einer doppelten Ansteckung mit COVID-19 und Influenza auf“, erklärt der Koordinator der Forschungsprojekte am Institut für Allgemeinmedizin. In einer Twindemie gibt es laut Prof. Wiedermann auch weitere Risikopersonen und Menschen, für welche beide Impfungen besonders empfohlen werden: Frauen in der Schwangerschaft und nach der Geburt, Personen, die für öffentliche Dienstleistungen zuständig sind (z.B. Gesundheitspersonal), sowie Familienmitglieder und Kontaktpersonen von Menschen mit erhöhtem Risiko – unabhängig davon, ob diese geimpft sind oder nicht.
Warum jetzt noch Maske tragen?
In öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es in Südtirol seit 1. Oktober 2022 keine Maskenpflicht mehr, auch in öffentlich zugänglichen Innenräumen tragen nur mehr wenige Bürger:innen aus freien Stücken eine Schutzmaske. „FFP2-Masken und AHA-Regeln schützen nicht nur vor einer Ansteckung mit Corona, sondern auch vor einer Infektion mit dem Grippe-Virus“, betont Wiedermann. Er verweist auf die Influenza-Daten von Australien: „Wenn wir die Altersverteilung der Grippefälle im Jahr 2019 (vor der Pandemie) mit jener von 2022 vergleichen, so waren 2019 die Infektionsmeldungen bei Kindern von 5 bis 9 Jahren am höchsten, gefolgt von jenen der Über-85-Jährigen. Heuer schaut die Lage in Australien aber ganz anders aus: Die meisten Grippemeldungen betreffen nur Kinder und Jugendliche, höherbetagte Senioren sind hingegen weniger oft von Influenza betroffen. Das dürfte mit der verlängerten Anwendung der AHA-Regeln in den australischen Pflegeheimen und dem zurückgezogeneren Leben zusammenhängen“, betont Wiedermann. „Auch wenn viele Südtiroler Bürger:innen das Wort ,Maske’ nach zweieinhalb Jahren Pandemie nicht mehr hören wollen: Die Maske ist eine wichtige Ergänzung zum aktuell dringend empfohlenen Corona-Booster“, hält Prof. Dr. Christian Wiedermann abschließend fest.
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