Reanimieren und telefonieren: Der Mediziner Michael M. Kochen präsentiert in seinem Mai-Newsletter eine Studie koreanischer Autoren dazu.
Der deutsche Mediziner Prof. Dr. med. Michael M. Kochen präsentiert in seinem Newsletter MMK-Benefits regelmäßig hausärztlich relevante Studienergebnisse. Prof. Kochen hat dem Institut für Allgemeinmedizin und Public Health seinen Newsletter zur Verfügung gestellt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Wer von Ihnen hat schon einmal ohne jede Hilfe allein reanimiert?
Bei jeder Verzögerung wiederbelebender Maßnahmen geht bekanntlich wichtige Zeit verloren, die u.U. über das Überleben der Opfer entscheiden kann. Daher die Frage:
- Haben Sie vor Beginn zuerst den Notarzt (in anderen Ländern ein speziell ausgebildetes Sanitäter-Team) gerufen
- oder die Reanimation für diesen Zweck unterbrochen?
Es gäbe da noch eine weitere Option: Mit einer Hand reanimieren und mit der anderen das Telefon bedienen. Geht nicht, werden Sie vielleicht sagen. Doch, geht wahrscheinlich schon…
Koreanische Autoren haben im Emergency Medical Journal eine Simulationsstudie vorgestellt, in der sie ein solches Szenario mit 108 Studierenden der Kyungbok University durchführten.
- Alle Studierenden hatten erfolgreich einen eintägigen konventionellen Wiederbelebungskurs absolviert. Konventionell (c-BLS) heißt: Telefonat vor Rea-Beginn, danach Herzmassage und Beatmung im 30:2-Rhythmus).
- Im Anschluss an den Kurs wurde Ihnen – nach Zusage einer Studienteilnahme – dann die modifizierte Reanimationstechnik (m- BLS) demonstriert: Beginn der Herzmassage mit der dominanten Hand und gleichzeitige telefonische Aktivierung mit der anderen Hand; anschließend Herzmassage und Beatmung im 30:2-Rhyth- mus). Diese Technik wurde eine Stunde lang mit einer Reanimationspuppe (Manikin) geübt.
- Die Grafik zeigt den Unterschied der beiden Vorgehensweisen.
Eine Woche später erschienen die Studierenden erneut. Je 54 wurden per Zufall auf die zwei Gruppen c-BLS bzw. m-BLS verteilt und wechselten dann nach drei Minuten zur jeweils anderen Gruppe. Zwischen dem Wechsel konnten sich die Teilnehmenden eine Stunde ausruhen.
Die Autoren definierten nicht weniger als zehn Endpunkte, u.a. Zeit vom Anruf bis zum Beginn der beidhändigen Reanimation, Zahl und Tiefe der Massagestöße, Handposition auf dem Sternum, Unterbrechungszeit durch bzw. Tiefe und Dauer der Beatmung.
Die Resultate sehen Sie in der folgenden Tabelle:
Die modifizierte war der (herkömmlichen) konventionellen Technik in allen relevanten Kriterien überlegen: Insbesondere war die Zeit bis zum Beginn der Herzmassage um 35 Sekunden verkürzt, die Zahl und Tiefe der Massagestöße war signifikant besser, ebenso die Parameter der Beatmung.
Zugegeben, die Studie hat neben den vielversprechenden Resultaten natürlich auch ihre Grenzen, z.B.:
- Die Herausforderung durch eine Simulation ist nicht mit dem Stress der „freien Wildbahn“ zu vergleichen. Man muss selbstredend immer sein Handy dabei und die Notfallnummer (bzw. die entsprechende App) parat haben; eine einhändige Bedienung will beherrscht werden. Man möchte sich auch nicht vorstellen, dass am anderen Ende eine untrainierte Urlaubsvertretung am Apparat ist und sagt „Sprechen Sie bitte lauter und stellen Sie die Nebengeräusche ab. Buchstabieren Sie nochmals Ihren Namen“ … Spaß beiseite.
2. Drei Minuten Reanimationsdauer entspricht nicht der Realität.
3. Die Teilnehmer konnten nicht verblindet werden und deren Alter (und Tremor- Neigung…?) wurde nicht in den Vergleich der Resultate einbezogen.
Die Arbeit ist nicht frei verfügbar. Park SO, Shin DH, Kim C, Lee YH. Commencing one-handed chest com- pressions while activating emergency medical system using a handheld mobile device in lone-rescuer basic life support: a randomised cross-over simulation study. Emerg Med J 2022; 39: 357–362
„Wie lange habe ich noch zu leben?“
Viele HausärztInnen dürften eine solche Frage von ihren meist tumorkranken Patienten schon gehört haben. Man tut bekanntlich gut daran, hier keine exakten Prognosen zu wagen – sie gehen oft genug schief.
Auch die früher populäre Aussage „Wenn Sie fünf Jahre ohne Rückfall überleben, haben Sie das Ganze hinter sich“ ist ziemlich riskant. Das zeigt nicht zuletzt eine Studie, die vor wenigen Tagen im Journal of the National Cancer Institute publiziert wurde.
- AutorInnen aus Dänemark und den USA identifizierten in der Danish Breast Cancer Group clinical database alle 36.924 Frauen, bei denen in den Jahren 1987 – 2004 ein Mamma-Karzinom im Frühstadium diagnostiziert worden war.
- Innerhalb dieser Gruppe hatten 20.315 Patientinnen zehn Jahre ohne Rezidiv oder (Mamma)Zweittumor überlebt.
- Ein Blick auf die Altersstruktur der 20.315 Frauen zeigt, dass fast 70% bei der Primärdiagnose zwischen 50 und >70 Jahren alt (und damit postmenopausal) waren.
- Diese Langzeitüberlebenden wurden bis zum Auftreten eines Spätrezidivs bzw. Zweittumors (oder bis zum Tod, der Emigration oder dem Auswertungs-Enddatum 31. Dezember 2018) nachverfolgt.
- Nachdem die 20.315 Patientinnen 10 Jahre nach der Erstdiagnose tumorfrei waren, entwickelten 2.595 Frauen ein Spätrezidiv, immerhin knapp 13% – die genauen Zahlen und den Zeitverlauf sehen Sie in der folgenden Tabelle:
- Wie zu erwarten, wurde die Spätprognose durch bestimmte Faktoren bei der Erstdiagnose verschlechtert (Alter < 40, Tumorgröße, Lymphknotenbefall, Brustrekonstruktion)
- Protektiv hingegen wirkten ein negativer Östrogenrezeptorstatus und eine adjuvante Chemotherapie.
Quintessenz:
Zwar bleiben rund 50% der Frauen nach der Diagnose eines Mammakarzinoms im Frühstadium für mindestens 10 Jahre krankheitsfrei – Spätrezidive nach Ablauf einer Dekade sind allerdings keine Rarität.
Die Studie im JNCI ist frei verfügbar unter https://t1p.de/34rd7.
„The last word hasn’t been said yet“ lautet der letzte Satz eines lesenswerten Artikels in der neuen Ausgabe des Arzneimittelbriefs über die bislang noch nicht endgültig zu entscheidende Frage: „Asymptomatische Hyperurikämie: medikamentös behandeln oder nicht?“. (Die Publikation ist urheberrechtlich geschützt und darf deshalb nicht auf dem Gesundheitsportal veröffentlicht werden.)
Im Text wird darauf eingegangen, dass es bis heute keine allgemein gültige Definition einer Hyperurikämie gibt („üblicherweise“ werden bei Männern Serumwerte >7 mg/l und bei Frauen > 6mg/l angenommen) und dass internationale Guidelines eine harnsäuresenkende Therapie zur Verhinderung einer Gicht nicht empfehlen – eine Ausnahme ist die japanische Leitlinie.
Eine Tabelle stellt die diesbezüglichen Argumente pro und contra zusammen.
„Medikamentenmangel – Profitgier mit Todesfolge“
lautet der Titel eines spannenden Dokumentationsfilms, der am 26.4.2022 auf ARTE TV gezeigt wurde (verfügbar bis 23.8.2022).
Im Text heißt es u.a. „Die Ursache für die weltweite Medikamentenknappheit findet sich im Rentabilitätsdenken der großen Pharmakonzerne. Ihr Profitstreben spielt mit dem Leben der Patienten und stellt eine Bedrohung für die Sozialversicherungssysteme dar“.
Auch für „Eingeweihte“ lohnen sich die 90 Minuten allemal. https://t1p.de/o5w7.
Der „Umgang“ von autokratischen bzw. diktatorischen Regimes mit WissenschaftlerInnen
unterscheidet sich nicht von anderen Opfern brutaler Menschenrechtsverletzungen. Im Laufe der Existenz der Benefits war immer wieder die Rede davon – heute geht es einmal nicht um eine Ärztin/einen Arzt, sondern um einen Umweltschützer.
Morad Tahbaz stammt aus einer iranischen Familie, ist aber selbst in London geboren und besitzt die iranische, britische und amerikanische Staatsbürgerschaft. Als Mitgründer der Persian Wildlife Heritage Foundation wurde er im Januar 2018 im Iran festgenommen und im November 2019 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Tahbaz wurde am 16. März 2022 „auf Bewährung“ freigelassen, um zwei Tage später erneut ins Gefängnis eingeliefert zu werden. Der andere Mitgründer, der Soziologe Kavous Seyed Emami, starb wenige Wochen nach seiner Festnahme in Haft.
Das „Verbrechen“ der insgesamt sieben eingesperrten WissenschaftlerInnen: Sie hatten den vom Aussterben bedrohten Asiatischen Gepard, den es nur noch im Iran gibt, mit Kamerafallen beobachtet. Für die iranische Regierung war das „Spionage für den Feind USA“. [Eine umfangreiche Liste von ausländischen Gefangenen in iranischer Haft kann man hier einsehen].
Gefangene werden in den Haftanstalten des Iran, z.B. im berüchtigten Evin-Gefängnis, nicht selten gefoltert. Besonders Frauen sind sexueller und mentaler Gewalt ausgesetzt. Eine angemessene medizinische Betreuung fehlt; Besuche von Anwälten oder Botschaftsangehörigen sind untersagt.
Nur internationaler Druck und konstante öffentliche Informationen können dazu beitragen, dass die willkürlich inhaftierten Menschen freikommen … bevor sie in den Kerkern solcher Unrechtsstaaten vergessen werden.
NB: Einen Teil der Informationen für diesen Text habe ich einem lesenswerten Editorial in der Zeitschrift Nature vom 14. April 2022 entnommen (“Gobal science must stand up for Iran ́s imprisoned scholars“).
Das Coronavirus
In Bezug auf Corona gibt es unverändert eine Flut an neuen Publikationen,
- z.B. Daten zur Effektivität einer zweiten Boosterimpfung aus Israel https://t1p.de/nozzt und https://t1p.de/waf6r
- oder eine methodisch fragliche und von den Interessenkonflikten eher suspekte, nichtsdestotrotz aber prominent publizierte Studie zur prophylaktischen Wirksamkeit des monoklonalen Antikörperpräparates AZD7442 (Tixagevimab–Cilgavimab – Handelsname Evusheld®).
- Die Relevanz manch anderer Veröffentlichungen erscheint mir in vielen Fällen dürftig – ich verzichte daher (erneut) darauf, sie hier zu referieren.
Das drängendste Problem in der aktuellen Corona-Situation liegt (trotz ausreichend vieler Probleme hierzulande) einige tausend Kilometer von uns entfernt – in China.
Das Land, das über mehr als zwei Jahre mit der Null-Covid-Politik erfolgreich die Fall- und Todeszahlen auf extrem niedrigem Stand halten konnte, sieht sich mit dem schlimmsten Corona-Ausbruch seit der ersten Welle konfrontiert. Die hochansteckende Omikron- BA.2-Variante trifft auf ungeimpfte Alte oder Menschen, die nach Impfung mit einer der chinesischen Vakzine weitgehend ungeschützt sind (der Kauf von m-RNA-Impfstoffen wird bis heute aus ideologischen Gründen abgelehnt).
Die Folgen dieser Situation zeigt das Statistische Bundesamt auf seiner Internetseite – diese offiziellen Zahlen dürften weit untertrieben sein.
Ich habe in die Grafik zwei Zeitpunkte eingeblendet:
Pro Tag infizieren sich allein in der 26-Millionen-Stadt Schanghai über 20.000 Menschen. Dort und in weiteren Riesenstädten wie Peking oder Guangzhou werden ganze Wohnblocks mit tausenden Familien (u.U. die ganze Stadt) einem strikten Lockdown unterzogen und dürfen ihre z.T. mit hohen Drahtzäunen abgeriegelten Wohnungen nicht mehr verlassen (auch das Einkaufen von Lebensmitteln oder das Aufsuchen einer medizinischen Versorgungseinrichtung ist nicht erlaubt). Mit jedem weiteren Fall im Haus verlängert sich die Abriegelung für die Bewohner um 14 Tage.
Wird z.B. in einem Einkaufszentrum auch nur eine Person positiv getestet, droht allen Besuchern der Transport in eine Corona-Isoliereinrichtung – Massenunterkünfte, in denen (im besten Fall) Feldbetten dicht an dicht stehen.
Zumindest in Schanghai war die Lebensmittelversorgung so unzureichend, dass die Menschen teilweise hungerten und ihrem Unmut mit lautem Schreien sowie Trommeln auf Kochtöpfen und Pfannen lautstark Ausdruck gaben. Die Parteiführung betrachtet ein solches Verhalten als schweres Vergehen und droht den Protestierenden mit Haft.
Der Chef der Anti-Corona-Taskforce, Wannian Liang, Professor an der Vanke School of Public Health der Pekinger Tsinghua Universität, sagte im Fernsehen, der Kampf gegen Corona sei ein Krieg, der unter allen Umständen gewonnen werden müsse.
Die weltweiten Auswirkungen dieser Situation sind gewaltig.
- Hunderte Flüge werden gestrichen, z.T. sind die Flughäfen der betroffenen Städte ganz geschlossen.
- Shanghai ist mit deutlichem Abstand vor Singapur der größte Containerhafen der Welt (43.5 Millionen TEU = Fuß-Stan- dardcontainer/Jahr). Nur um einmal die Größenverhältnisse aufzuzeigen: Rotterdam, der größte europäische Container- hafen schlägt jährlich 14.4 und Hamburg 8.7 Millionen TEU um.
- Die See-Exporte aus Schanghai sind bislang um mehr als 30% gefallen, was erhebliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage (und das Bruttoinlandsprodukt) Chinas, aber auch der Welt hat.
- Vor dem Hafen warten hunderte Schiffe auf Be- bzw. Entladung. In der folgenden Grafik (mainetraffic.live) sind Frachtschiffe grün und Tanker rot gekennzeichnet.
Zum Schluss wollte ich Ihnen noch eine schöne Karikatur aus der Süddeutschen Zeitung zeigen, deren Interpretation ich Ihrem persönlichen Urteil überlasse.
Der Karikaturist Sinisa Pismestrovic zeichnet seit Jahren für die SZ, aber auch für andere Zeitungen und Portale, z.B. für die österreichische Kleine Zeitung.
Der begabte Künstler, der sich selbst Sini nennt, wurde 1980 in Zagreb geboren, machte sein Abitur 1999 in Klagenfurt und studierte anschließend Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Seine Internetpräsenz erreichen Sie unter https://www.sinipismestrovic.com/
Sein Vater Petar ist ebenfalls Karikaturist – dieses Bild zeigt die beiden in ihrer Ausstellung “Politik der Gefühle – und die Bedeutung der Karikatur” im Kulturstadel Grünspan in Feffernitz (einer Ortschaft im österreichischen Kärnten).
Herzliche Grüße
Michael M. Kochen
Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
Emeritus, Universitätsmedizin Göttingen
Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
AG Infektiologie und Leitliniengruppe Neues Coronavirus, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
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