Eine:r von sieben Südtiroler:innen über 75 Jahren nimmt mindestens acht Medikamente ein. Bei der Hälfte dieser Patientinnen und Patienten ist mindestens ein Medikament unangemessen oder sogar gefährlich.
Die häufigsten potenziell unangemessenen Medikamente sind Schlaf- und Beruhigungsmittel sowie Entzündungshemmer.
Ältere Menschen haben ein höheres Risiko, an einer oder mehreren chronischen Erkrankungen zu leiden, wodurch auch die Anzahl an eingenommenen Medikamenten steigt. Zugleich birgt die Mehrfacheinnahme von Medikamenten (Polypharmazie) auch gewisse Risiken. Das Institut für Allgemeinmedizin und Public Health der Landesfachhochschule für Gesundheitsberufe Claudiana ist der Frage nachgegangen, wie häufig Polypharmazie in Südtirols älterer Bevölkerung vorkommt und ob sich die Anzahl unangemessener Medikamente gezielt verringern lässt.
Die Ergebnisse einer randomisiert-kontrollierten Studie wurden am 20. März 2021 und 23. November 2021 als wissenschaftliche Publikationen in der Fachzeitschrift BMC Geriatrics veröffentlicht, welche federführend von der Allgemeinmedizinerin und Wissenschaftlerin am Institut, Dr. Angelika Mahlknecht, verfasst wurden.
Der Hintergrund
In Italien erhalten ungefähr zwei Drittel der Bevölkerung über 65 Jahren vier oder mehr Medikamentenverschreibungen jährlich, was wiederum fast zwei Drittel der öffentlichen Spesen für Medikamente ausmacht.
Eine Mehrfachtherapie ist bei vielen chronischen Erkrankungen zur korrekten Behandlung notwendig: so sieht zum Beispiel eine leitliniengerechte Therapie nach einem Herzinfarkt bereits die Einnahme von vier oder mehr Substanzen vor. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass der Großteil der älteren Menschen an mehreren chronischen Erkrankungen leidet. Dadurch addieren sich leitliniengerechte Therapien oftmals und das birgt Risiken: Zum einen weil Leitlinienempfehlungen zumeist auf einzelnen Erkrankungen basieren, zum anderen weil die Arzneimittelstudien großteils bei jüngeren Altersgruppen durchgeführt werden. Ältere Patient:innen mit Mehrfacherkrankungen und gebrechliche Personen werden bei Studien hingegen wenig berücksichtigt. Dies erhöht für diese Patientengruppe die Wahrscheinlichkeit unangemessener Polypharmazie.
Die „PRIMA“-Studie
Das Institut für Allgemeinmedizin und Public Health der Landesfachhochschule für Gesundheitsberufe Claudiana wollte mit der Studie erheben, wie häufig Polypharmazie bei älteren Menschen mit chronischen Erkrankungen in Südtirol vorkommt, ob es bestimmte Faktoren gibt, die mit Polypharmazie assoziiert sind, und ob die Verschreibung von unangemessenen Medikamenten gezielt reduziert und dadurch ein Nutzen für die betroffenen Patient:innen erreicht werden kann.
Die klinische Studie „PRIMA“ (Polypharmacy in chronic diseases – Reduction of Inappropriate Medication and Adverse drug events in older populations) wurde in Südtirol zwischen 2013 und 2016 von der Vorgängerin des Instituts, der Südtiroler Akademie für Allgemeinmedizin, gemeinsam mit Experten der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg und der Universitätsklinik Innsbruck durchgeführt. Finanziert wurde die Untersuchung vom italienischen Gesundheitsministerium.
An der Studie beteiligten sich 43 Südtiroler Hausärztinnen und Hausärzte und 579 Patient:innen mit einem Mindestalter von 75 Jahren und einer täglichen Einnahme von mindestens acht Dauermedikamenten.
Es wurde festgestellt, dass 13.4% aller Patient:innen im Alter ab 75 Jahren acht oder mehr Medikamente einnahmen. 46% der Studienteilnehmer:innen wurden mit mindestens einem potenziell unangemessenen Medikament behandelt: dazu zählen Substanzen, die bei älteren Menschen das Risiko signifikanter Nebenwirkungen bergen, z.B. Stürze oder Verschlechterung kognitiver Funktionen. Die häufigsten potenziell unangemessenen Medikamente waren Schlaf- und Beruhigungsmittel (bei rund 20% der Patient:innen) und Entzündungshemmer (bei rund 7% der Patient:innen). Bei zwei Dritteln der Studienteilnehmer:innen wurde mindestens eine potentiell gefährliche Wechselwirkung zwischen Wirkstoffen festgestellt. Die Anzahl solcher Interaktionen war umso höher, je höher die Anzahl an eingenommenen Medikamenten war.
Eine Polypharmazie wurde signifikant häufiger bei Patient:innen mit einer höheren Anzahl an chronischen Erkrankungen festgestellt und bei Patient:innen mit den Diagnosen: Arthrose, Typ 2-Diabetes, koronare Herzerkrankung und chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD).
Die Studienteilnehmer:innen wurden nach dem Zufallsprinzip in eine Interventionsgruppe und eine Kontrollgruppe aufgeteilt. Während die Patient:innen der Kontrollgruppe in der üblichen Weise weiterbetreut wurden und keine Überprüfung ihrer Medikation erhielten, wurden die Medikationspläne der Patient:innen der Interventionsgruppe von drei Experten überprüft.
Die Hausärztinnen und Hausärzte der Patient:innen der Interventionsgruppe erhielten Vorschläge zum Absetzen konkreter Medikamente, die als unangemessen bewerteten wurden. Insgesamt wurden rund 15% aller verordneten Medikamente von den Experten als potenziell unangemessen bewertet. Von diesen wiederum wurde lediglich ein knappes Sechstel von den Hausärztinnen und Hausärzten definitiv abgesetzt. Die Gründe für das Nicht-Absetzen waren: das Vorhandensein einer konkreten Indikation, eine vorangegangene fachärztliche Verordnung, der Wunsch der Patientin oder des Patienten nach Fortsetzung der Therapie, oder aber das Wiederauftreten von Symptomen nach versuchtem Stopp der Therapie.
Um festzustellen, ob eine Reduktion von potenziell unangemessenen Medikamenten zu einem Benefit für die Patient:innen führt, wurden bei allen Teilnehmer:innen vor Beginn und am Ende der Studie die Anzahl der Todesfälle, Krankenhausaufnahmen und weitere Gesundheitsindikatoren erhoben: Obwohl in der Interventionsgruppe nur eines von sechs unangemessenen Medikamenten definitiv abgesetzt wurde, verzeichneten die Patient:innen signifikant weniger Stürze als jene der Kontrollgruppe.
Das Fazit
● Polypharmazie ist ein relevantes Phänomen in der älteren Südtiroler Bevölkerung.
● Das Absetzen unangemessener Arzneimittel ist schwierig, deshalb sollte bei einer neuen Medikamentenverschreibung von vornherein auf deren Angemessenheit geachtet werden.
● Bereits eine geringe Reduktion von unangemessenen Arzneimitteln kann positive klinische Effekte für die betroffenen Patient:innen bewirken.
Im klinischen Alltag der Hausärztinnen und Hausärzte sollten daher die Möglichkeiten und Ressourcen geschaffen werden, die medikamentöse Therapie älterer Patient:innen regelmäßig zu überprüfen und anzupassen.
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