Die Corona-Pandemie hat zu einer Zunahme der psychosozialen Belastungen bei Eltern, Kindern und Jugendlichen geführt. Das ist ein zentrales Ergebnis der COPSY2-Studie des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health. Anhand dieser Studie können die kurzfristigen Negativfolgen der Pandemie für die gesundheitsbezogene Lebensqualität bestätigt werden. Weiters dokumentiert sie als Langzeitfolge das vermehrte Auftreten von psychosozialen Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatischen Problemen.
COPSY: Zusammenhang Pandemie-Psyche
,COPSY’ steht für COrona und PSYche: An der anonymen Online-Umfrage konnten im März 2022 alle Südtiroler Familien mit mindestens einem schulpflichtigen Kind, das das laufende Schuljahr besucht, teilnehmen. Der Fragebogen, der den Familien über die drei Schulämter zugestellt wurde, betraf verschiedene Teilbereiche des Alltags.
„Die Frage der psychischen Belastung von Kindern, Jugendlichen und Eltern während der Corona-Pandemie war und ist ein wichtiges Thema. Deshalb hat unser Institut die wissenschaftliche Untersuchung dieser Fragestellung für Südtirol übernommen, um das Ausmaß des Problems zu verstehen und gezielte Interventionen zu fördern“, erklärt Dr. Adolf Engl, Präsident des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen.
„Im Vergleich zur COPSY1-Erhebung haben psychosomatische Beschwerden bei Südtirols Jugend zugenommen“, bilanziert Dr. Verena Barbieri, Leiterin der Südtiroler COPSY-Studien und Biostatistikerin am Institut. „Mehr oder weniger gleich geblieben sind Verhaltensstörungen mit Gleichaltrigen und Angstzustände“, ergänzt Barbieri.
Die Teilnehmer:innen an der COPSY2-Studie
Zählte COPSY1 (Mai/Juni 2021) noch 6.958 teilnehmende Eltern, konnte die Folgestudie COPSY2 (März 2022) 9.171 Eltern als Teilnehmende verbuchen. Der digitale Fragebogen wurde zu fast 89% von weiblichen Erziehungsberechtigten beantwortet. Die Analyse der Daten ergab keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Antworten von Frauen und jenen von Männern. Parallel zu den „Eltern-Antworten“ füllten 2.393 Schüler:innen im Alter von 11 bis 19 Jahren den Selbstreport aus. Die Zahl der Teilnehmer:innen verteilt sich ausgeglichen über alle Schulstufen. Seitens der italienischen Schule war die Teilnahme etwas geringer: 25% der Schüler:innen Südtirols sind an einer italienischsprachigen Schule eingeschrieben, aber nur 16% der an der Studie teilnehmenden Eltern gaben an, dass ihr(e) Kind(er) eine italienische Schule besuchen.
Unterschiede zwischen deutscher, italienischer und ladinischer Schule in Südtirol
- Schüler:innen der ladinischen Schule schneiden in allen Bereichen wesentlich besser ab als jene der deutschen und italienischen Schule.
- Die Schüler:innen der italienischen Schulen waren im Vergleich zu jenen der deutschen und ladinischen Schulen deutlich öfters im Fernunterricht.
- Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen zeigen sich öfters an italienischen Schulen.
- Italienische Schulfamilien geben deutlich häufiger an, dass sich die Familienstimmung seit Beginn der Pandemie verschlechtert hat.
- Familien mit Kindern an Schulen mit deutscher Unterrichtssprache geben deutlich häufiger den Verlust von Sozialkontakten an. Damit hängt der höchste Konsum von digitalen Medien im privaten Bereich zusammen.
- Von Familien, deren Kinder eine ladinischsprachige Schule besuchen, werden der allgemeine Gesundheitszustand und die gesundheitsbezogene Lebensqualität weitaus am besten bewertet.
Die größten Probleme im Überblick
- Bei der ersten COPSY-Umfrage 2021 konnte eine pandemiebedingte Verdoppelung von psychischen und psychosomatischen Beschwerden der Kinder und Jugendlichen festgestellt werden. Die zweite Umfrage erlaubt es nun, Rückschlüsse auf die Langzeitfolgen der Pandemie zu ziehen.
- Psychosomatische Beschwerden haben bei Kindern und Jugendlichen zugenommen. Mit zunehmendem Alter gibt es mehr Probleme dieser Art.
- Die Doppelbelastung der Eltern (Beruf und Homeschooling) hat sich stark auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ausgewirkt: Hauptsächlich Gereiztheit und schlechte Laune sind laut Eltern und Schüler:innen mindestens einmal pro Woche aufgetreten.
- Laut Eltern sind Grundschüler am meisten von Gereiztheit und schlechter Laune (54%) betroffen, gefolgt von Nervosität (34%), Einschlafproblemen und Niedergeschlagenheit (29%).
- Bei Mittelschülern sind Gereiztheit und Einschlafprobleme laut Eltern im Vergleich zur COPSY1-Erhebung 2021 leicht rückläufig, doch Niedergeschlagenheit (von 32,9% auf 36,5%) und Kopfschmerzen (von 29,4% auf 36,5%) wurden vermehrt verzeichnet.
- Auch bei Oberschüler:innen gab es bei der Niedergeschlagenheit (von 34,5% auf fast 43%) und den Kopfschmerzen (von 28,7% auf 42%) im Gegensatz zum Jahr 2021 deutliche Zunahmen. Die Gereiztheit ist laut Eltern hingegen von 65% im Vorjahr auf 51% zurückgegangen.
- 17% der Schüler:innen wurden von ihren Eltern als grenzwertig/auffällig in ihrem Verhalten eingestuft, bei der Untersuchung 2021 betrug der Wert noch 21%.
- Mehr oder minder gleich geblieben – im Vergleich zu 2021 – sind Verhaltensstörungen mit Gleichaltrigen sowie Angstzustände.
- Verhaltensauffälligkeiten jedweder Art verzeichnen mit zunehmendem Alter der Schüler:innen eine Zunahme, während Angstzustände und emotionale Probleme und Depressionen zunehmen bzw. gleich bleiben.
- Mädchen sind vor allem von emotionalen Problemen, Angststörungen und Depressionen betroffen, Jungen hingen vor allem von Verhaltensstörungen und Hyperaktivität.
- Die Lebensqualität, die Hyperaktivität, emotionale Probleme und allgemeine Verhaltensstörungen haben sich im Vergleich zur COPSY1-Erhebung verbessert.
Wir Allgemeinmediziner:innen stellten seit Beginn der Pandemie eine Zunahme psychischer Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen fest, die sich vor allem durch Kopfschmerzen, Schwindel, Bauchschmerzen und Atemnot, aber auch in Form von Angststörungen bis hin zu Panikattacken äußerten.
GIULIANO PICCOLIORI, WISSENSCHAFTLICHER LEITER INSTITUT FÜR ALLGEMEINMEDIZIN
„Seltener haben wir neu auftretende depressvie Syndrome gesehen, eher eine Intensivierung von Vorerkrankungen. Der Kinderarzt und der Hausarzt sind die ersten Ansprechpartner für Eltern von Kindern und Jugendlichen, die solche Probleme haben. Die COPSY-Studien bestätigen die Existenz dieses Phänomens, beschreiben und quantifizieren es. Sie versetzen uns Allgemeinmediziner:innen in die Lage, die Erscheinungsformen dieses Phänomens frühzeitig zu erkennen und – zusätzlich zu unserer Patient:innenkommunikation – Ressourcen der psychologischen Dienste des öffentlichen Gesundheitswesens zu nutzen“, unterstreicht Dr. Piccoliori.
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Südtirols Familien
- Rund 30% der Studienteilnehmer:innen gaben bei COPSY2 an, dass sich die Familienstimmung seit Beginn der Pandemie im März 2020 verschlechtert hat.
- Vor allem Familien, in denen die Eltern coronabedingt stark beruflich belastet waren oder alleinerziehend sind, waren besonders starken Belastungen ausgesetzt (z.B. Abnahme der Lebensqualität, Zunahme von emotionalen Problemen und Depressionen).
- In den offenen Antworten der COPSY2-Umfrage beklagen Eltern hauptsächlich, dass sich Schulisches und Soziales pandemiebedingt sehr stark in die Familien verlagert haben.
- Ungefähr 70% der Eltern von Grundschüler:innen, 57% der Eltern von Mittelschüler:innen und 30% der Eltern von Oberschüler:innen gaben an, ihrem Kind oft oder immer bei schulischen Angelegenheiten und Problemen geholfen zu haben. Im Vergleich zur COPSY1-Studie aus dem Jahr 2021 sind diese Prozentsätze deutlich angestiegen.
- Bei Kindern und Jugendlichen, deren Eltern beruflich unter schweren Belastungen litten, traten verstärkt Verhaltensprobleme auf. Eine Zunahme der Hyperaktivität konnte hingegen nicht festgestellt werden.
- Im Vergleich zur COPSY1-Studie gaben die Schüler:innen die Familie noch mehr als ersten Bezugspunkt in ihrem Leben an.
„Familien von Kindern in der ladinischen Schule waren am wenigsten von den psychosozialen Auswirkungen der Pandemie betroffen“, erläutert Studienleiterin Dr. Verena Barbieri. „Auch der Bildungsstand der Eltern zeigte keinen Einfluss. Kinder von Alleinerziehenden waren hingegen sehr stark betroffen, Kinder mit Migrationshintergrund der Eltern vor allem von Verhaltensstörungen. Besonders gelitten haben Kinder, die nicht in Italien geboren wurden. Sie zeigen vor allem Auffälligkeiten bei Angstzuständen und Depressionen. Allerdings muss man hier berücksichtigen, dass sie in der Umfrage keine repräsentative Gruppe darstellen“, analysiert Dr. Barbieri.
Gesundheit und Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen
- 80% aller Eltern beschreiben die Gesundheit ihrer Kinder als „sehr gut“ bis „ausgezeichnet“. Diese Zahl deckt sich mit jener der COPSY1-Untersuchung von 2021. Eltern von Schüler:innen der ladinischsprachigen Schulen bewerten den gesundheitlichen Zustand ihrer Kinder am besten, Eltern der italienischsprachigen Schulen hingegen am schlechtesten.
- 20% der Eltern bezeichnen die Lebensqualität ihrer Kinder als „niedrig“. Dieser Wert beträgt bei Grundschüler:innen 15%, bei Mittelschüler:innen bei 23% und bei Oberschüler:innen bei 28%.
- Was die Selbstreports der Oberschüler:innen anbelangt, so klagten in erster Linie Mädchen über eine niedrige Lebensqualität (40%).
Schwierigkeiten mit dem „realen“ Leben
- 60% aller Jugendlichen und 59% aller Eltern gaben an, dass mehr Zeit vor den digitalen Medien (z.B. Computer, Smartphone, Spielkonsole etc.) als vor Beginn der Pandemie verbracht wurde.
- Gerade bei Mittelschüler:innen konnte eine deutliche Zunahme des Konsums digitaler Medien festgestellt werden.
- 9% der Schüler:innen konsumieren zu schulischen Zwecken mehr als 3 Stunden täglich digitale Medien, 2021 (COPSY1) waren es noch 22% der Schüler:innen.
- Im privaten Bereich verbringen 25% der Jugendlichen mehr als 3 Stunden pro Tag mit digitalen Medien, 2021 betrug der Wert 29%.
- Es wurden weniger Sozialkontakte als in der Vergangenheit gepflegt. Die Rückkehr in ein „reales“ Leben fällt vielen Schüler:innen schwer.
Die Handlungsvorschläge
„Die Corona-Pandemie hat das Bewusstsein für unsere eigene Verwundbarkeit und die unserer Kinder geschärft, aber sie hat uns auch ermutigt, unsere Grundwerte zu überdenken, das Leben und unsere Stärken zu schätzen und Familie und Freunde näher zusammenzubringen. Welche dieser Verhaltensänderungen wir in der ,neuen Welt’ nach der Pandemie beibehalten werden und welche verschwinden werden, wenn sich unser Leben wieder füllt, wird sich zeigen“, analysiert Prof. Dr. Christian Wiedermann, Koordinator der Forschungsprojekte am Institut für Allgemeinmedizin und Public Health.
„Klar ist, dass die COVID-19-Pandemie bei bestimmten vulnerablen Bevölkerungsgruppen einen unverhältnismäßig negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit von Kindern hatte. Studien zeigen, dass dies auch mit eingeschränkten familiären Unterstützungsmöglichkeiten zu tun hatte. Es wird deswegen besonders wichtig sein, davon betroffenen Kindern und Familien jene Hilfe zukommen zu lassen, die sie im Einzelfall benötigen“, stellt Dr. Wiedermann fest.
Bildung darf nicht nur zur Aufgabe der Eltern werden, ebenso sind die finanziellen, persönlichen und beruflichen Belastungen der Familien durch die Pandemie deutlich zu Tage getreten. Experten für psychische Probleme sollten den Eltern unkompliziert und zeitnah für ihre Kinder zur Verfügung gestellt werden und in den Schulen sollte die Verantwortung für die Bildung klar übernommen werden.
Verena Barbieri, Leiterin der COPSY-Studie 2022 und BIOStatistikerin
Für COPSY-Studienleiterin Dr. Verena Barbieri besteht Handlungsbedarf: „Betreuungsangebote sowie finanzielle und berufliche Entlastungen der Eltern sind wichtige Themen, die jetzt durch die Pandemie doppelt wichtig geworden sind, um den Familien ein geregeltes und normales Leben zu ermöglichen, damit sie nicht unter der Alltagslast zusammenbrechen“, schlussfolgert Dr. Barbieri.
Die COPSY-Studien für Südtirol entstanden in Kooperation mit der Forschungssektion Child Public Health der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Zentrum für Psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf in Deutschland.
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