Ein akuter Covid-19 Infektionsverlauf mit Mehrfachsymptomatik erhöht das Risiko für Long-Covid. Zu dieser Erkenntnis kommt die Studie „Gesundheit nach Covid-19“, die im vergangenen Winter in Tirol und Südtirol durchgeführt wurde. Im folgenden Fachartikel fasst der Internist Univ. Prof. Dr. Christian Wiedermann, vom Forschungsteam des Instituts für Allgemeinmedizin der Claudiana, die Studienergebnisse zusammen und gibt einen interdisziplinären Überblick von Leitlinienempfehlungen zu Long-Covid.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
Das Institut für Allgemeinmedizin an der Landesfachhochschule für Gesundheitsberufe der Claudiana in Bozen war Teil einer Gesamttiroler Studie zu den gesundheitlichen Folgen der Coronavirus Erkrankung 2019 (Covid-19) – eine akute Infektion mit SARS-CoV-2, die für normal nicht länger als zwei Wochen dauert. Symptome und auffällige Untersuchungsergebnisse, die länger als 12 Wochen bestehen bleiben und nicht auf alternative Diagnosen zurückzuführen sind, werden als „Post-Covid-19-Syndrom“ bezeichnet. Sind Beschwerden zwar länger als vier aber nur bis zu 12 Wochen vorhanden, spricht man von „Anhaltender Covid-19 Symptomatik“. Beide zusammen (Anhaltende Covid-19 Symptomatik und Post-Covid-19-Syndrom), versteht man als „Long-Covid“. Long-Covid ist in den medialen Vordergrund gerückt und vielerorts ist es zu einer Herausforderung für die Gesundheitssysteme geworden, die Organisationsentwicklung und -struktur auf diesen neu hinzugekommenen Behandlungsbedarf einzustellen. Das Ziel der Gesamttiroler Studie war es, der Genesung nach akuter Covid-19-Infektion in Tirol und Südtirol genauer auf den Grund zu gehen. Der Fokus lag dabei auf Patientinnen und Patienten, bei denen die akute Infektion milde verlaufen und ein Krankenhausaufenthalt nicht notwendig war.
Die Südtiroler Long-Covid Studie
An der Querschnittsbefragung in Tirol (Studienkohorte) und Südtirol (Validierungsgruppe) sollten sich möglichst viele Personen nach Medienaufrufen beteiligen, die eine im PCR-Test bestätigte SARS-CoV-2 Infektion durchgemacht haben. Online wurden der körperliche und geistige Gesundheitszustand sowie insgesamt 43 mögliche Covid-19 Symptome erhoben. Die unterschiedlich ausgeprägten Symptome in der bis zu zwei Wochen dauernden akuten Erkrankungsphase sollten das Risiko abschätzen lassen, ob sich später Long-Covid entwickelt. Antworten von 1671 Befragten konnten ausgewertet werden (1038 aus Tirol und 633 aus Südtirol). Etwa die Hälfte der teilnehmen Personen gab an, dass die Symptome länger als vier Wochen angehalten haben.
Ein akuter Covid-19 Infektionsverlauf mit Mehrfachsymptomatik von Seiten verschiedener betroffener Organsysteme erhöht das Risiko für Long-Covid.
Die Symptomhäufigkeit nahm im Erkrankungsverlauf ab. Aus der Kombination und der Art der Beschwerden während der akuten Covid-19 Infektionsphase ließen sich interessante Berechnungen anstellen. Zwei Muster von Symptomen konnten erkannt werden, die mit dem Risiko von Long-Covid zusammenhängen und sich so für die Vorhersage eignen. In dem abgeleiteten Algorithmus wurde sowohl in der Studien- als auch in der Validierungskohorte eine Vorhersagegenauigkeit von 75% erreicht. Die wichtigste Erkenntnis ist, dass ein akuter Covid-19 Infektionsverlauf mit Mehrfachsymptomatik von Seiten verschiedener betroffener Organsysteme das Risiko für Long-Covid erhöht. Nach dem Algorithmus können Long-Covid Verdachtsfälle zukünftig besser abgeklärt und früher einer ganzheitlichen Betreuung zugeführt werden. Die Studienergebnisse und Schlussfolgerungen sind zur Publikation eingereicht und in Begutachtung.
Abklärung und Behandlung von Long-Covid
Persistierende körperliche und psychische Symptome nach Covid-19 sind nicht ungewöhnlich. Jüngste Daten aus Frankreich zeigen, dass etwa ein Viertel der Personen, die wegen COVID-19 ins Krankenhaus eingeliefert waren, sechs Monate später noch immer drei oder mehr persistierende Erkrankungsymptome hatte. Die körperlichen Beschwerden umfassen typischerweise Müdigkeit, Atemnot, Brustschmerzen und Husten. Weniger oft sind Anosmie, Gelenkschmerzen, Kopfschmerzen, Sicca-Symptomatik, Rhinitis, Geschmacksstörungen, Appetitlosigkeit, Schwindel, Myalgien, Schlaflosigkeit, Alopezie, Schwitzen und Durchfall. Zu den häufigen psychischen oder kognitiven Beschwerden zählen die posttraumatische Belastungsstörung, Angstzustände, Depressionen sowie Gedächtnis- und Konzentrationsschwäche.
Während eine leichte akute Covid-19 Erkrankung bei den meisten Patienten innerhalb von zwei Wochen abklingt, dauert die Genesung bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Covid-19 Akuterkrankung länger, oft zwei bis drei Monate und bei Überlebenden kritischer Krankheit sogar noch länger. Die große Variabilität in der Dauer der Genesung hängt von der Schwere der akuten Erkrankung und wahrscheinlich auch von prämorbiden Risikofaktoren ab.
Der Covid-19 Schweregrad, die Dauer und der Verlauf der Symptome bestimmen Bedarf, Art und Zeitpunkt von Nachuntersuchungen. In der Regel sollen alle hospitalisierten Patientinnen und Patienten innerhalb einer Woche nach der Entlassung kontrolliert werden. Für Patientinnen und Patienten, die nicht ins Krankenhaus eingeliefert waren, aber älter sind oder an Komorbiditäten leiden (z. B. Diabetes, Bluthochdruck), ist eine Nachuntersuchung innerhalb von drei Wochen empfohlen. Nachuntersuchungen nach leichten akuten Covid-19-Erkrankungen erfolgen normalerweise nur dann, wenn Symptome bleiben oder neu auftreten.
Bei der Nachuntersuchung zur akuten Covid-19 Krankheit werden der zeitliche Verlauf, die Dauer und die Schwere der Symptomatik, die Art und der Schweregrad der Komplikationen, objektive Untersuchungsergebnisse und alle durchgeführten Therapien festgehalten. Die Notwendigkeit der Wiederholung von Labortests hängt von der Schwere der Erkrankung, den früheren während der Krankheit abnormalen Testergebnissen und den aktuellen Symptomen ab. Auf eine erneute aktive Infektion mit SARS-CoV-2 wird bei der ambulanten Nachuntersuchung nicht routinemäßig getestet.
In der kardiopulmonalen Kontrolle wird nach anhaltender Dyspnoe (in Ruhe und Anstrengung), Husten, pleuritischen Schmerzen, Orthopnoe, Thoraxschmerzen (Anstrengungsbezug, Lage), peripheren Ödemen, Palpitationen, Schwindel, Orthostase und Synkope gefragt. Bei Patientinnen und Patienten, die während des akuten Verlaufs der Covid-19 Erkrankung ein Lungeninfiltrat oder eine andere Anomalie in der Bildgebung zeigten, sollte die Bildgebung nach drei Monaten einmal wiederholt werden – meistens ist das ein Thoraxröntgen, bei neuen oder anhaltenden Symptomen auch früher. Bei intermittierenden oder anhaltenden kardiopulmonalen Symptomen wie Palpitationen oder bei allgemeinen konstitutionellen Beschwerden wie Schwäche und Müdigkeit ist in der Regel auch ein 12-Kanal-Elektrokardiogramm sinnvoll.
Wenn für Patientinnen und Patienten mit Long-Covid eine umfassende, integrierte ambulante Versorgung angeboten werden soll, ist multidisziplinäre Zusammenarbeit unerlässlich. Abhängig von den verfügbaren Ressourcen soll eine terminliche Priorisierung für jene Patientinnen und Patienten möglich sein, bei denen das Risiko besonders erhöht ist, z.B. nach schwerer Erkrankung mit Behandlung auf der Intensivstation, bei fortgeschrittenem Alter und dem Vorhandensein von Organ-Komorbiditäten (vorbestehende Atemwegserkrankungen, Fettleibigkeit, Diabetes, Bluthochdruck, chronische Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronische Nierenerkrankungen, nach Organtransplantation oder aktiver Krebs). Bei Thoraxschmerz, anhaltender Atemnot und Sauerstoffbedarf entscheiden die Fachbereiche Kardiologie und Pneumologie über die Notwendigkeit von Lungenfunktions- und Belastungstests, radiologischer Bildgebung, Echokardiographie und des Pulmonalembolie Ausschlusses. Die Hämatologie bringt sich in die Frage der erweiterten Thromboseprophylaxe ein. Screening-Tests für Angst, Depression, posttraumatische Belastungsstörung und kognitive Beeinträchtigung liegen in den Abklärungsbereichen der klinischen Psychologie, Psychiatrie und Neurologie. Die Nephrologie führt Follow-Up Untersuchungen bei jenen Patientinnen und Patienten durch, die in der Akutphase von Covid-19 eine akute Nierenschädigung entwickelten. Die Physikalische Medizin berücksichtigt frühzeitig die verschiedenen Rehabilitationsmöglichkeiten, deren Zuweisung oft von der Allgemeinmedizin ausgeht.
FAZIT
Die Allgemeinmedizin spielt eine zentrale Rolle in der Patientenaufklärung, bei der patientenzentrierten Integration der involvierten Fachbereiche und sie unterstützt die Patientenrekrutierung für klinische Studien. Für die in einzelnen Leitlinien vorgeschlagenen gemeinsamen Sprechstunden, wo mehrere Fachbereiche gemeinsam ambulante Patientinnen und Patienten sehen und diese nicht mehr von Ambulanz zu Ambulanz geschickt werden, fehlen vielfach noch die Voraussetzungen und werden vorerst einzelnen COVID-Zentren vorbehalten bleiben. Deshalb wird der Allgemeinmedizin weiterhin nicht nur die patientenzentrierte Integrationsaufgabe zufallen und das Case Management, sondern wohl auch ein Teil der fachspezifischen Versorgungsleistungen. Leider fehlen der Allgemeinmedizin sowohl im italienischen als auch im deutschen Sprachraum noch eigene Leitlinien für Long-Covid, auf die bei offenen Fragen zum Beispiel aus England zurückgegriffen werden kann (s. weiterführende Literatur). Long-Covid hat uns klar gemacht, dass die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Covid-19 nicht mit der Entlassung aus dem Krankenhaus abgeschlossen ist, sondern ambulant umfassend und interdisziplinär fortgeführt werden muss. Die Gesundheitssysteme stehen vor der Aufgabe, ihre Versorgungsstrukturen so zu organisieren, dass ärztliches und nicht-ärztliches Gesundheitspersonal aus verschiedenen Disziplinen und Bereichen in die Lage versetzt wird, integrierte Betreuung zugänglich und möglich zu machen.
Weiterführende Literatur
Nalbandian A, Sehgal K, Gupta A et al (2021) Post-acute COVID-19 syndrome. Nat Med 27:601–615. https://doi.org/10.1038/s41591-021-01283-z
Shah W, Hillman T, Playford ED, Hishmeh L (2021) Managing the long term effects of covid-19: summary of NICE, SIGN, and RCGP rapid guideline. BMJ 372:n136. https://doi.org/10.1136/bmj.n136