Jeder kennt Neuron-Neuron-Synapsen, die Signale von einer Nervenzelle auf eine andere Nervenzelle weiterleiten. Dass es auch Synapsen zwischen Neuronen und Krebszellen gibt, ist noch nicht so lange bekannt. Mit der wechselseitigen Kommunikation zwischen Tumoren und Nervensystem beschäftigt sich die moderne Krebs-Neurowissenschaft, von Forschenden auch Cancer Neuroscience genannt. Der deutsche Krebsinformationsdienst berichtet darüber.
Der Krebsinformationsdienst des deutschen Krebsforschungszentrums ist Ansprechpartner für alle Fragen zum Thema Krebs. Das Zentrum bietet wissenschaftlich fundierte Informationen über die Krankheit und berät Betroffene und Angehörige. Auf der Internetseite bietet der Dienst aktualisierte Informationen zum Thema Krebs. Diese Inhalte stellt der Krebsinformationsdienst dem Südtiroler Institut für Allgemeinmedizin und Public Health zur Verfügung.
In den letzten Jahren ist das enge Zusammenspiel von Nervensystem und Krebs in den Fokus gerückt. Forschende haben eine Vielzahl von Wechselwirkungen entdeckt. Dieser Crosstalk unterscheidet sich je nach Krebsart und Nervenart. Nicht nur das Gehirn (zentrales Nervensystem), sondern auch das periphere Nervensystem im ganzen Körper ist daran beteiligt.
Krebs-Neurowissenschaft: Was ist das?
Krebs-Neurowissenschaft oder auf Englisch übersetzt Cancer Neuroscience ist eine neue Disziplin in der Krebsmedizin: Sie beschäftigt sich mit dem komplexen Wechselspiel zwischen Krebs und Nervensystem – außerdem mit Behandlungsansätzen, die sich daraus ableiten (siehe Ausblick). Bereits bei der Krebsentstehung spielen Nerven eine aktive Rolle, aber auch, wenn Tumoren wachsen und sich ausbreiten1,2.
Wissenschaftlicher Hintergrund: Es gibt vielfältige Mechanismen, wie Krebszellen und Nervensystem interagieren können. Dabei können Signale in beide Richtungen übertragen werden: Wissenschaftler bezeichnen dies als bidirektionalen Crosstalk. Mögliche Schaltkreise sind:
- Krebszellen setzen aktiv Wachstumsfaktoren frei und stimulieren das Einsprossen von neuen Nerven in das Tumorgewebe (Nerv-Neubildung) – analog zur Gefäßneubildung (Neo-Angiogenese). Diese Neu-Innervation fördert das Wachstum und die Ausbreitung und ermöglicht es den Tumorzellen, der Kontrolle durch das Immunsystem zu entkommen.
- Nervenzellen (Neuronen) und Krebszellen können über “echte” Neuron-zu-Krebs-Synapsen direkt miteinander kommunizieren – über chemische und elektrische Signale.
- In der Mikroumgebung des Tumors gibt es weitere Zellarten, die das Nervensystem beeinflussen, wie zum Beispiel Immun- und Bindegewebszellen.
Wichtig zu wissen: Welche Nervenbahnen und welche Botenstoffe (Neurotransmitter) eine Rolle spielen, kann von Krebsart zu Krebsart variieren. Während etwa der Parasympathikus bei Magenkrebs im Maus-Modell wachstumsfördernd wirkt, ist es bei Brustkrebs gerade umgekehrt: Dort hemmt er das Tumorwachstum. Der Sympathikus hingegen begünstigt die Progression von Brusttumoren.1
Es gibt noch andere Themen, wie Krebs und Nerven miteinander verknüpft sein können – etwa, wenn Krebstherapien Nebenwirkungen im Nervensystem auslösen (Neuropathie, kognitive Beeinträchtigung). Darauf gehen wir an dieser Stelle nicht ein.
In dieser Fachkreise-News beschreiben wir drei Beispiele, wo Cancer Neuroscience den Dialog zwischen Krebs und Nervensystem untersucht und anschaulich erklären kann:
- Crosstalk zwischen ZNS und Hirnmetastasen
- Bedeutung der perineuralen Invasion bei Prostatakrebs
- Warum Schmerzen bei Pankreaskrebs häufig sind
Hirnmetastasen und ZNS: im Austausch
In der Praxis werden Hirnmetastasen immer häufiger beobachtet. Das liegt daran, dass Krebspatientinnen und Krebspatienten mit den modernen onkologischen Therapien länger leben und der Arzt mithilfe der modernen bildgebenden Verfahren Metastasen entdeckt, bevor sie Symptome verursachen.
Schon länger bekannt ist die enge Verzahnung von primären Hirntumoren und zentralem Nervensystem (ZNS). Inzwischen weiß man, dass es eine solche Verbindung auch zwischen den Neuronen im ZNS und Hirnmetastasen gibt – also Krebszellen, die erst sekundär ins Gehirn eingewandert sind.
Krebswachstum kann die Aktivität von Nervenzellen erhöhen und dadurch epileptische Anfälle begünstigen, die bei 10 bis 15 Prozent der Betroffenen auftreten. Gleichzeitig scheint die erhöhte Nervenzellaktivität das Tumorwachstum im Gehirn zu beeinflussen. Diese Zusammenhänge werden intensiv erforscht, um gezielte Behandlungsansätze zu entwickeln.
Prostatakrebs: perineurale Invasion
In der gesunden Prostata reguliert das vegetative Nervensystem die normale Drüsenfunktion. Auch bei Prostatakrebs interagieren die Nerven mit den Karzinomzellen: Diese Interaktion kann das Zellwachstum fördern und die Ausbreitung von Tumorzellen in Lymphknoten oder entferntes Gewebe unterstützen.
Zusätzlich ist bekannt, dass Tumorzellen sich entlang von Nervenbahnen ausbreiten können (perineurale Invasion, siehe Infobox). Diese Mechanismen stehen im Zusammenhang mit einer fortgeschritteneren Krankheitssituation – ähnlich wie bei der Absiedlung über den Blut- oder Lymphweg.
Im Unterschied zu den Blut- und Lymphgefäßen haben Nervenfasern keinen Hohlraum. Voraussetzung für die perineurale Invasion ist daher ein enger wechselseitiger Austausch zwischen Tumor- und Nervenzellen samt ihren Hüllzellen:
- Die Tumorzellen schädigen die Nerven.
- Reparaturprogramme werden aktiviert, Botenstoffe und Wachstumsfaktoren ausgeschüttet und Nerven umgebaut.
- Dadurch entstehen Bedingungen, die es den Krebszellen erleichtern, entlang der Nervenbahnen zu wandern.
Pankreaskarzinom: wie Schmerzen entstehen
Wie die Prostatadrüse ist auch die Bauchspeicheldrüse dicht innerviert. Von Pankreaskrebs Betroffene leiden nicht selten unter Schmerzen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Schmerzsymptomatik eng mit einer perineuralen Invasion im Gewebe verknüpft ist. Auch die Mikroumgebung des Tumors und Immunfunktionen werden dadurch beeinflusst.
Pankreaskrebszellen bilden Wachstumsfaktoren, beispielsweise den Nerven-Wachstums-Faktor (nerve growth factor, NGF). NGF unterstützt das Wachstum von Nervenfasern in das Tumorgewebe hinein. Diese Wechselwirkung zwischen Tumorzellen und Nerven scheint dazu beizutragen, dass der Tumor weiterwachsen kann.
Auch bei fortgeschrittenem Prostatakrebs können Schmerzen Hinweise auf den Krankheitsverlauf geben. Aktuelle klinische Studien3 legen nahe, dass Männer mit Knochenmetastasen und Knochenschmerzen eine tendenziell ungünstigere Prognose haben als Betroffene ohne Knochenschmerzen. Die Wissenschaftler vermuten, dass hier ebenfalls der Nervenwachstumsfaktor NGF eine Rolle spielen könnte.
Ausblick
Die junge Disziplin Cancer Neuroscience oder auf Deutsch “Krebs-Neuro-Wissenschaft” weckt großes Interesse unter Expertinnen und Experten. Denn Cancer Neuroscience wird als neues Grundprinzip erkannt, das viele Krebszellen auszeichnet4,5. Noch steckt Cancer Neuroscience in den Kinderschuhen. Mehr Forschung ist nötig, um aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen eine neue Säule der Krebstherapie zu entwickeln – neben Operation, Strahlen-, Chemo-, Immun-, Hormon- und zielgerichteter Therapie.
In Pilotstudien und frühen klinischen Studien werden zielgerichtete Therapiestrategien geprüft, die das Nervensystem beeinflussen sollen. Ziel ist es herauszufinden, ob durch die Modulation bestimmter Signalwege auch das Tumorwachstum gehemmt werden kann.
Solche neuromodulatorischen Medikamente existieren bereits für andere medizinische Zwecke und könnten künftig für die Onkologie umgewidmet werden (Beispiele):
- Betablocker, die den Sympathikus blockieren
- Antiepileptika, die spezifische synaptische Signalübertragungen hemmen
- Lokale Betäubungsmittel, die die Nervenleitung mindern
Wichtig für Ihre Patienten und Patientinnen: Auch wenn der Gedanke vielleicht nahe zu liegen scheint – aus den bisherigen Erkenntnissen der Cancer-Neuroscience-Forschung lässt sich nicht ableiten, ob und inwieweit psychische Faktoren das Tumorwachstum unmittelbar über das Nervensystem beeinflussen könnten. Angesichts des sehr komplexen Themas ist hier noch viel weitere interdisziplinäre Forschung notwendig.
Quellen
1 Winkler F, Venkatesh HS, Amit M, Batchelor T, Demir IE, Deneen B, Gutmann DH, Hervey-Jumper S, Kuner T, Mabbott D et al. Cancer neuroscience: State of the field, emerging directions. Cell. 2023 Apr 13;186(8):1689-1707. doi: 10.1016/j.cell.2023.02.002.
2 Mancusi R, Monje M. The neuroscience of cancer. Nature. 2023 Jun;618(7965):467-479. doi: 10.1038/s41586-023-05968-y.
3 Gebrael G, Jo Y, Swami U et al. Bone Pain and Survival Among Patients With Metastatic, Hormone-Sensitive Prostate Cancer: A Secondary Analysis of the SWOG-1216 Trial. JAMA Netw Open. 2024;7(7): e2419966. doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.19966.
4 Amit M. Cancer Neuroscience: Evidence for a New Hallmark of Cancer. Adv Biol (Weinh). 2022 Sep;6(9):e2200192. doi: 10.1002/adbi.202200192.
5 Hanahan D, Monje M. Cancer hallmarks intersect with neuroscience in the tumor microenvironment. Cancer Cell. 2023 Mar 13;41(3):573-580. doi: 10.1016/j.ccell.2023.02.012.
Weitere Übersichtsarbeiten und Fachveröffentlichungen:
AbuQeis I, Zou Y, Ba YC, Teeti AA. Neuroscience of cancer: Research progress and emerging of the field. Ibrain. 2024 Aug 14;10(3):305-322. doi: 10.1002/ibra.12172.
Amit M, Anastasaki C, Dantzer R, Demir IE, Deneen B, Dixon KO, Egeblad M, Gibson EM, Hervey-Jumper SL, Hondermarck H et al. Next Directions in the Neuroscience of Cancers Arising outside the CNS. Cancer Discov. 2024 Apr 4;14(4):669-673. doi: 10.1158/2159-8290.CD-23-1495.
Benzaquen D, Lawrence YR, Taussky D, Zwahlen D, Oehler C, Champion A. The Crosstalk between Nerves and Cancer—A Poorly Understood Phenomenon and New Possibilities. Cancers. 2024; 16(10):1875. doi: 10.3390/cancers16101875.
Lan YL, Zou S, Wang W, Chen Q, Zhu Y. Progress in cancer neuroscience. MedComm (2020). 2023 Nov 22;4(6):e431. doi: 10.1002/mco2.431.
Liang S, Hess J. Tumor Neurobiology in the Pathogenesis and Therapy of Head and Neck Cancer. Cells. 2024 Jan 30;13(3):256. doi: 10.3390/cells13030256.
Ma X, Deng K, Sun Y, Wu M. Research trends on cancer neuroscience: a bibliometric and visualized analysis. Front Neurosci. 2024 Aug 29;18:1408306. doi: 10.3389/fnins.2024.1408306.
Mardelle U, Bretaud N, Daher C, Feuillet V. From pain to tumor immunity: influence of peripheral sensory neurons in cancer. Front Immunol. 2024 Feb 16;15:1335387. doi: 10.3389/fimmu.2024.1335387.
Wang H, Huo R, He K, Cheng L, Zhang S, Yu M, Zhao W, Li H, Xue J. Perineural invasion in colorectal cancer: mechanisms of action and clinical relevance. Cell Oncol (Dordr). 2024 Feb;47(1):1-17. doi: 10.1007/s13402-023-00857-y.
Yaniv D, Mattson B, Talbot S, Gleber-Netto FO, Amit M. Targeting the peripheral neural-tumour microenvironment for cancer therapy. Nat Rev Drug Discov. 2024 Oct;23(10):780-796. doi: 10.1038/s41573-024-01017-z.
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