Italienweit bildet Südtirol bei den Impfraten das Schlusslicht. Fünf Studien des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen, die zwischen 2021 und 2023 durchgeführt wurden, zeigen auf, warum viele Bürgerinnen und Bürger impf-zögerlich sind oder Impfungen ablehnen. „Unsere Untersuchungen liefern nicht einzig Erkenntnisse zum Impfverhalten der Südtiroler Bevölkerung. Sie beleuchten zudem die Herausforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege und bieten Handlungsempfehlungen für künftige Impfkampagnen und Anti-Pandemie-Maßnahmen“, erklärt Prof. Dr. Christian Wiedermann, Ex-Primar für Innere Medizin und seit 2021 Forschungskoordinator des Instituts für Allgemeinmedizin.
Fünf Studien zum Impfverhalten in Südtirol
Während und gegen Ende der Corona-Pandemie – zwischen 2021 und 2023 – führte das Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen in Zusammenarbeit mit Südtirols Landesinstitut für Statistik ASTAT und dem Forum Prävention fünf umfangreiche Studien zum Impfverhalten der Bevölkerung in Südtirol durch. „Ziel der Untersuchungen unserer Forschungsgruppe war es, die Gründe für die Impfzögerlichkeit vieler Bürger:innen kennenzulernen“, sagt Prof. Dr. Christian Wiedermann, Forschungskoordinator des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. Die Fachartikel zu den Studien und eine Zusammenschau der hauptverantwortlichen Autor:innen Christian Wiedermann, Verena Barbieri, Barbara Plagg, Giuliano Piccoliori und Adolf Engl finden Sie hier: https://www.institut-allgemeinmedizin.bz.it/studien-zur-impfzogerlichkeit-in-sudtirol-interview-mit-prof-christian-wiedermann/
Corona als Wendepunkt im Impfverhalten
Die COVID-19-Pandemie hat nicht nur die Dringlichkeit von Impfungen hervorgehoben, sondern auch große Herausforderungen bei der Einführung von Impfstoffen aufgezeigt. „Corona markierte in Südtirol zweifelsohne einen Wendepunkt im Impfverhalten vieler Menschen, schärfte die Pandemie doch das Bewusstsein für Impfungen“, sagt Prof. Christian Wiedermann. „Trotz global hoher Akzeptanz blieben in Südtirol Herausforderungen bestehen. Interessanterweise dürfte die Impfskepsis 2023 im Vergleich zu 2021 und den Vorjahren noch zugenommen haben – ein Phänomen, das wohl mit anhaltendem Vertrauensverlust in die Gesundheitspolitik während der Pandemie zusammenhängt“, analysiert Wiedermann. Die Pandemie habe die Notwendigkeit zielgruppenorientierter Informationskampagnen zur Überwindung von Impfzögerlichkeit aufgezeigt. „Solche Initiativen sind wichtig, um die Impfraten zu erhöhen und das Vertrauen in das öffentliche Gesundheitssystem zu stärken“, betont Prof. Wiedermann.
Die Impfsituation in Südtirol
Die Ergebnisse der fünf Studien lassen Forschungskoordinator Prof. Wiedermann folgendes Bild der Impfsituation in Südtirol skizzieren: „Misstrauen gegenüber Gesundheitsinstitutionen und Desinformation bedingen die derzeit vorherrschende Impfsituation im Land. Insbesondere Mentalitätsunterschiede zwischen den Sprachgruppen erfordern angepasste Strategien der Aufklärung und Wissensvermittlung, um vertrauensbildende Maßnahmen zu entwickeln“.
Südtirols kulturelle Vielfalt als Herausforderung
Die Studien zeigen auf, dass in Südtirol durch die kulturelle und sprachliche Vielfalt einzigartige Voraussetzungen für Impfentscheidungen gegeben sind. „Deutschsprachige Bürgerinnen und Bürger weisen eine höhere Impfzögerlichkeit auf als Bürger:innen italienischer Muttersprache. Das Impfverhalten könnte auf kulturelle und historisch gewachsene Unterschiede zurückzuführen sein. Daten zur ladinischen Sprachgruppe waren begrenzt“, erläutert Prof. Wiedermann. Von Misstrauen gegenüber Gesundheitsinstitutionen bis hin zu Desinformation – die Hürden für eine flächendeckende Impfbereitschaft sind vielfältig, unterstreicht Wiedermann, der hinzufügt: „Unsere Studien liefern die Erkenntnis, dass eine wirksame Aufklärung der Südtiroler Bevölkerung nur dann gelingen kann, wenn Gesundheitskampagnen auf alle Sprachgruppen abgestimmt werden“.
Unterschiede zwischen Stadt und Land
In Südtirols ländlichen Gebieten ist die Impfzögerlichkeit stärker ausgeprägt als in den Städten. „Dies könnte möglicherweise mit nicht immer einfachen Zugangsmöglichkeiten zu Gesundheits-diensten und zu verlässlichen Informationen zu tun haben“, kommentiert Prof. Wiedermann die Daten. Die geringere Bevölkerungsdichte, aber auch das soziale Umfeld fördern laut Wiedermann gerade im ländlichen Raum die Verbreitung von Fehlinformationen und eine niedrigere Risikowahr-nehmung für Infektionskrankheiten. „Demgegenüber zeigt sich in Südtirols Städten – wohl durch ein höheres Gesundheitsbewusstsein, besseren Zugang zu medizinischen Einrichtungen und zu vielfältigeren, weil vermehrt auch italienischsprachigen Informationsquellen – eine höhere Impf-akzeptanz“, erläutert Prof. Christian Wiedermann.
Einfluss gesellschaftlicher und politischer Faktoren
Das Impfverhalten der Südtiroler Bevölkerung wird maßgeblich von gesellschaftlichen und politischen Faktoren beeinflusst. „Bildung, Zugang zu verlässlichen Informationen und das Vertrauen in Gesundheitsbehörden spielen dabei eine entscheidende Rolle. Politische Faktoren, wie das Vertrauen in das öffentliche Sanitätswesen und Südtirols Autonomie, prägen ebenfalls die Impfbereitschaft“, fasst Prof. Christian Wiedermann zusammen.
Familie und Freundeskreis steuern Impfentscheidungen
Viele Südtiroler Bürgerinnen und Bürger verlassen sich bei ihrer Entscheidung für oder gegen das Impfen auf Informationen und Ratschläge aus ihrem familiären und privaten Umfeld. „Das starke Vertrauen in nahestehende Personen – verstärkt durch Skepsis gegenüber offiziellen Quellen – und der Wunsch nach sozialem Zusammenhalt, fördern das Bevorzugen der familiären und privaten Informationsquellen in Südtirol. In einer Region, in der sprachlich-kulturelle Zugehörigkeit prägend für das Selbstverständnis vieler Bürgerinnen und Bürger ist, wird diese Tendenz noch verstärkt“, führt Prof. Wiedermann aus. Diese Dynamiken seien ein Beleg für die Notwendigkeit, gesundheitspolitische Aktionen sprachgruppen- und kultursensibel zu gestalten, um das Vertrauen in Impfungen erhöhen zu können.
Bildungsniveau und Impfbereitschaft
Die Studien zeigen, dass Bildungsunterschiede – neben sprachgruppenspezifischen Faktoren und dem Unterschied im Impverhalten zwischen Stadt und Land – Impfzögerlichkeit mitbedingen: Ein höheres Bildungsniveau geht mit einer höheren Impfbereitschaft einher, ein niedrigeres Bildungsniveau führt hingegen oft zu mehr Impfzögerlichkeit. „Eine bessere Bildung ermöglicht es den Menschen, wissenschaftliche Informationen besser zu verstehen, Desinformation zu erkennen und Fake News zu entlarven“, hebt Prof. Wiedermann hervor. Bildungsinitiativen seien daher entscheidend, um die öffentliche Gesundheit zu schützen.
Das Impfverhalten ist auch vom Alter abhängig
Die Einstellung zur Impfung variiert auch mit dem Alter. „Jüngere Menschen zeigen mehr Impfzögerlichkeit, oft beeinflusst durch Social Media. Ältere Menschen vertrauen hingegen eher traditionellen Medien und erkennen die Vorteile von Impfungen an. Das erklärt die höhere Impfbereitschaft dieser Bevölkerungsgruppe“, sagt Prof. Christian Wiedermann.
Die Rolle der Medien
Die Nutzung von Medien hat einen erheblichen Einfluss auf das Impfverhalten in Südtirol. „Personen, die sich hauptsächlich über Social Media und das Internet informieren, sind möglicherweise stärker Desinformationen und impfkritischen Botschaften ausgesetzt. Die Algorithmen sozialer Netzwerke neigen dazu, Nutzer:innen mit Inhalten zu versorgen, die ihre bestehenden Überzeugungen bestätigen, was zur Bildung von Echokammern führen kann, in denen impfskeptische Ansichten verstärkt werden“, erklärt Prof. Christian Wiedermann, der auf die Wichtigkeit wissenschaftlich fundierter Gesundheitsinformation verweist.
Die Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte
Südtirols Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin spielen eine Schlüsselrolle bei der Förderung der Impfbereitschaft in der Bevölkerung. „Die Bürger:innen nehmen sie als vertrauenswürdige Gesundheitsberater:innen wahr. Im persönlichen Gespräch mit ihren Patient:innen können Hausärztinnen und Hausärzte auf Bedenken eingehen, über Impfstoffe aufklären und als Vorbilder agieren“, unterstreicht Prof. Wiedermann. „Wenn eine Hausärztin ihre Patient:innen proaktiv über Impftermine informiert, kann dies die Impfraten erhöhen.“ Der ärztliche Wissensaustausch in einer Gemeinschaftspraxis könne zudem eine positive Kommunikation über Impfungen stärken.
Frühjahr 2024: Risiko einer Masernepidemie in Südtirol?
In Österreich, aber auch im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt und in den USA sorgt derzeit die Zunahme von Masernfällen für Schlagzeilen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt eine Durchimpfungsrate von 95% für Herdenimmunität. „In Südtirol, wo Impfskepsis verbreitet ist, sind die Impfraten allgemein und auch für Masern viel zu niedrig, was das Ausbruchsrisiko steigert. Aktuelle Masernfälle in den Nachbarregionen verdeutlichen die Gefahr. Daher ist es entscheidend, durch gezielte Aufklärung Vertrauen in Impfungen zu stärken, um dem Ausbruch einer Masern-Epidemie in Südtirol vorzubeugen“, bekräftigt Prof. Christian Wiedermann.
Fünf Handlungsempfehlungen für die Zukunft
Aus den Untersuchungen des Südtiroler Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health können fünf Handlungsempfehlungen für die Zukunft abgeleitet werden, dank derer die öffentliche Gesundheit gefördert und die Impfbereitschaft in der Bevölkerung erhöht werden könnten:
- Leicht verständliche Informationen für alle Bevölkerungsgruppen Südtirols bereitstellen.
- Bürger:innen über Sicherheit und Wirksamkeit der Impfstoffe transparent informieren.
- Auf individuelle Anliegen und Ängste eingehen, um maßgeschneiderte Botschaften zu entwickeln.
- Bildungsprogramme fördern, um Medienkompetenz zu verbessern und Fake News zu erkennen.
- Südtirols Meinungsbildner:innen einbinden, um das Vertrauen in Impfungen zu stärken.
Wichtig zu wissen: Die einzelnen Artikel des Gesundheitsblogs des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen werden nicht aktualisiert. Ihre Inhalte stützen sich auf Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Belege, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung verfügbar sind. Gesundheitsinformationen aus dem Internet können eine persönliche ärztliche Beratung nicht ersetzen. Informieren Sie Ihren Hausarzt oder Ihre Hausärztin über mögliche Beschwerden. Weiter…