In Südtirol gibt es derzeit 288 Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin. Doch schon jetzt sind fast 80 Hausarztstellen im Land vakant. Die Ursachen hierfür sind zum einen die Pensionierungen von Hausärztinnen und Hausärzten, zum anderen fehlen Nachwuchskräfte, die nach ihrem Medizinstudium eine Ausbildung in Allgemeinmedizin absolvieren. Das Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen ist mit einer Erhebung unter Studierenden sowie unter Ärztinnen und Ärzten in Ausbildung der Frage nachgegangen, welche Faktoren die Wahl des Hausarztberufes begünstigen oder behindern.
Der Hausarztmangel in Südtirol
„Bis 2031 werden mehr als 100 Hausärztinnen und Hausärzte in den Ruhestand treten, zusätzlich zu den schon jetzt fehlenden ca. 80 Allgemeinmediziner:innen, die nur in geringem Maße von den Auszubildenden und ehemaligen Krankenhausärztinnen und -ärzten ersetzt werden können“, analysiert Dr. Giuliano Piccoliori, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. „Der Hausarztmangel wird dramatisch sein und folglich schwerwiegende Auswirkungen nicht nur auf die Bevölkerung, sondern auch auf die Arbeitsbelastung der Hausärztinnen und Hausärzte haben: Sie werden gezwungen sein, einen Teil ihrer Arbeits- und Versorgungslast auf andere Einrichtungen – vor allem auf die Krankenhäuser – abzuwälzen. Das könnte zu noch stärkerer Überlastung, ja gar zum Zusammenbruch des öffentlichen Versorgungssystems in Südtirol führen“, warnt Dr. Piccoliori.
Warum ist der Hausarztberuf kein „Traumjob“ mehr?
Im Sommer 2022 führte das Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Universität Innsbruck und allen ärztlichen Direktionen der Tiroler Krankenhäuser eine Online-Befragung durch, um zu erfahren, warum für viele Studierende an der Medizinischen Universität Innsbruck und für Ärztinnen/Ärzte in Ausbildung an den Tiroler Krankenhäusern die Allgemeinmedizin kein „Traumjob“ mehr ist.
„Seit Jahren beobachten wir, dass sich sehr wenige Südtiroler Jungärztinnen und Jungärzte für die Ausbildung in Allgemeinmedizin und eine Praxiseröffnung in Südtirol entscheiden. Daher wollten wir verstehen, warum das so ist. Da der Großteil der Medizinstudierenden aus Südtirol in Österreich und dort vornehmlich in Innsbruck studiert, hat sich eine Umfrage zusammen mit der Medizinischen Universität Innsbruck angeboten“, erklärt Dr. Adolf Engl, Präsident des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health am Universitäten Ausbildungszentrum Claudiana in Bozen.
An der Online-Befragung nahmen im heurigen Sommer 528 Studierende und 103 Ärztinnen und Ärzte in Ausbildung teil. Der Anteil der Teilnehmenden aus Südtirol betrug bei den Studierenden ein knappes Viertel und bei den Ärztinnen und Ärzten rund ein Fünftel. Insgesamt beteiligten sich an der Befragung mit rund 56% etwas mehr Frauen als Männer, wobei der Anteil an weiblichen Teilnehmenden unter den Südtiroler Befragten mit fast zwei Dritteln sogar noch höher war.
Die wichtigsten Ergebnisse der Befragung
- Es gibt ein überraschend hohes Interesse an der Allgemeinmedizin: Für rund 40% der befragten Ärztinnen, Ärzte und Studierenden ist der hausärztliche Beruf („völlig“ oder „eher“) attraktiv.
- 57% der Ärztinnen und Ärzte und 39% der Studierenden interessieren sich für die Allgemeinmedizin als Fachgebiet für den späteren Beruf.
- Allerdings ist das Interesse an der Arbeitsweise der Allgemeinmedizin gering: 24% der befragten Studierenden und 17% der befragten Ärztinnen und Ärzte bezeichnen diese als „eintönig“.
- Nur 2,4% der Südtiroler Studierenden und 4,8% der Südtiroler Ärztinnen und Ärzte haben sich für den Beruf der Hausärztin/des Hausarztes entschieden.
- 20% der befragten Südtiroler Studierenden kritisieren den zu hohen administrativen Aufwand der hausärztlichen Tätigkeit.
- 30% aller befragten Ärztinnen und Ärzte bemängeln die Arbeitsüberlastung der Hausärztinnen und Hausärzte, die langen Arbeitszeiten und die zu geringe Zeit, um auf die einzelnen Patientinnen und Patienten einzugehen.
- Nur 19% der an der Befragung teilnehmenden Südtiroler Studierenden streben eine Ausbildung zur Hausärztin/zum Hausarzt in Südtirol an. 71% wollen diese Ausbildung in Österreich, 10% in Deutschland absolvieren.
- Die häufigsten Gründe, sich nach der Ausbildung nicht in Südtirol niederzulassen, sind:
- Organisation des Gesundheitswesens in Italien (81% der Befragten)
- limitierte Möglichkeit für Zusatzdiagnostik (76%)
- schwierige Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern (66%)
- geringe Wertschätzung durch Politik und Sanitätsbetrieb (62%)
- Bürokratie und Verwaltung (52% der Befragten)
Die Analyse der Ergebnisse
Die Befragung zeigt, dass das grundsätzliche Interesse an der Allgemeinmedizin als Fachgebiet überraschend groß ist, jedoch die Ausbildung und Niederlassung als Hausärztin/Hausarzt in Südtirol wenig attraktiv sind. „Unsere Umfrage hat wesentliche Ursachen für den Hausarztmangel ans Tageslicht gebracht: Zum einen ist es ein in Südtirol fehlender Arbeitsvertrag für die Ausbildungsärztinnen und -ärzte in Allgemeinmedizin und damit zusammenhängend die mangelhafte Einbindung in die praktische Tätigkeit während der Ausbildung“, stellt Dr. Adolf Engl klar. „Eine weitere Ursache ist die mangelhafte Ausstattung der Südtiroler Hausarztpraxen mit ausgebildetem Personal und diagnostischen Möglichkeiten. Durch die erschwerte Kommunikation zwischen den Praxen und mit den Abteilungen der Krankenhäuser und durch zu viel Bürokratie bleibt schlichtweg zu wenig Zeit für die fundamentalen Patientenkontakte“, unterstreicht Dr. Engl.
„Die Studierenden führen die vergleichsweise geringere Durchführung von allgemeinmedizinischen Zusatzleistungen als Grund an, sich nicht in Südtirol ausbilden lassen zu wollen: Bei Praktika in österreichischen oder deutschen Hausarztpraxen wird erlebt, dass es dort weit mehr an diagnostischen Möglichkeiten gibt, was die Attraktivität des Hausarztberufs in Südtirol verringert und eine Abwanderungstendenz begünstigt“, analysiert Dr. Angelika Mahlknecht, Ärztin für Allgemeinmedizin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Allgemeinmedizin Bozen.
Laut Umfrage streben 71% der Befragten eine Ausbildung in Allgemeinmedizin in Österreich an, lediglich 19% in Südtirol. „Die Hausarztausbildung in Österreich (Turnus) erfolgt zusätzlich zur praktischen Ausbildung in der allgemeinmedizinischen Lehrpraxis vor allem im Krankenhaus“, erklärt Dr. Mahlknecht. „Im Krankenhaus haben die Ärztinnen und Ärzte in Ausbildung ein reguläres Anstellungsverhältnis mit sozialer Absicherung, sind mehr ins Team integriert und absolvieren Nacht- und Wochenenddienste“, betont Dr. Mahlknecht. In Südtirol findet die Ausbildung ebenfalls in Lehrpraxen und Krankenhäusern statt und begleitend gibt es ebenfalls fachspezifische Theorieseminare. In den Krankenhäusern haben Ausbildungsärztinnen und -ärzte keine vergleichbare Möglichkeit der selbständigen Mitarbeit, sie sind nicht angestellt und dürfen keine Nachtdienste mit definierter Versorgungsverantwortung absolvieren.
Das Interesse an der Allgemeinmedizin ist bei den Studierenden geringer ausgeprägt als bei den Ärztinnen und Ärzten in Ausbildung. Das könnte darauf hinweisen, dass die Allgemeinmedizin während des Medizinstudiums noch zu wenig Beachtung findet. „Als akademisches Fach ist die Allgemeinmedizin noch unzureichend verankert“, betont Prof. Dr. Christian Wiedermann, Koordinator der Forschungsprojekte am Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. „Reformstudiengänge“ mit modernisierter Didaktik waren in Deutschland zwar schon vor Jahren eingeführt worden, „doch die gewünschte Verbesserung in der allgemeinmedizinischen Versorgungssituation sind solche Studiengänge schuldig geblieben“, sagt Prof. Wiedermann. „Raschere Anpassungen der Ausbildung an größere Zukunftsfähigkeit und mit mehr Allgemeinmedizin sind einzelnen neu gegründeten Medical Schools andernorts besser gelungen. Leider sind die Versuche einer solchen neuen Ausbildung sowohl in Südtirol (2013) als auch im Bundesland Tirol (2018) gescheitert“, erinnert Prof. Wiedermann.
Ungefähr ein Viertel der Studierenden und der Ärztinnen/Ärzte will die Ausbildung nicht in Südtirol absolvieren, da Allgemeinmediziner:innen in Italien keinen Facharzttitel erhalten. Nach dem derzeitigen Ausbildungsschema steht einer 6-jährigen Facharztausbildung eine nur 3-jährige Spezialisierung in Allgemeinmedizin gegenüber. „Jüngst hat Österreich beschlossen, ausbildungsmäßig die Allgemeinmedizin den sog. Sonderfächern gleichzustellen und den Umstellungsprozess in der Spezialisierung zu starten, damit künftig auch vom ,Facharzt für Allgemeinmedizin’ gesprochen werden kann. Italien könnte diesem Beispiel folgen“, sagt Prof. Dr. Christian Wiedermann.
„Für 22% der von uns befragten Ärztinnen und Ärzte genießt die Allgemeinmedizin in der Öffentlichkeit wenig Wertschätzung. Sie nehmen auch wahr, dass Hausärztinnen und -ärzte oftmals seitens der Bevölkerung, aber auch von fachärztlichen Kollegen als zweitklassige Medizinerinnen und Mediziner, ja als reine „Rezepteverschreiberinnen und -verschreiber“ betrachtet werden“, gibt Dr. Angelika Mahlknecht zu bedenken.
10 Vorschläge für Maßnahmen gegen den Hausarztmangel in Südtirol
- Mehr Zusatzdiagnostik in den Hausarztpraxen (z.B. Ultraschall und EKG)
- Mehr Gemeinschaftspraxen mit bereitgestelltem nicht-ärztlichen Personal
- Bürokratieabbau für mehr Betreuungsqualität, wo immer möglich
- Anstellungsverhältnis aller Ärztinnen und Ärzte in Ausbildung
- Aufwertung der allgemeinmedizinischen Ausbildungstätigkeit im Krankenhaus unter Tutoren
- Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Krankenhäusern und Hausarztpraxen
- Teilzeitbeschäftigungen in Hausarztpraxen
- Werbung für die Südtiroler Ausbildung in Allgemeinmedizin an Universitäten in Italien, Österreich und Deutschland
- Stärkere Verankerung der Allgemeinmedizin im Medizinstudium
- Facharzt für Allgemeinmedizin auch in Italien
„Wir müssen endlich das alte Modell des allein arbeitenden Hausarztes aufgeben. Junge Ärztinnen und Ärzten wollen sich viel lieber in einem Team weiterentwickeln. Zudem müssen Hausärztinnen und Hausärzte viel stärker von Aufgaben entlastet werden, die nicht rein medizinischer Natur sind. Das setzt Zeit und Energie für die Betreuung der Patienten frei. Der Einsatz von zusätzlichen diagnostischen Mitteln würde einen gezielteren Diagnoseweg ermöglichen und die berufliche Zufriedenheit der Ärztinnen und Ärzte erhöhen. Südtirol kann diese Entwicklung mit Ressourcen fördern und dem Beispiel anderer Regionen (z.B. Veneto) folgen.“ Dr. Giuliano Piccoliori
„Unsere Umfrage bestätigt, dass Frauen sich eher für die Allgemeinmedizin interessieren und in manchen Aspekten eine positivere Sicht auf den hausärztlichen Beruf haben als Männer. Künftig müsste die Allgemeinmedizin daher vor allem für Frauen attraktiver gemacht werden, etwa durch vermehrte Teilzeitbeschäftigungen im Rahmen eines Anstellungsverhältnisses in einer Hausarztpraxis oder durch die Option der Beschränkung der Zahl an Patientinnen und Patienten.“ Dr. Angelika Mahlknecht
„Das Medizinstudium ist für spätere Berufsausübung ein Ort der ,professionellen Sozialisierung’. Frühe und verstärkte Studienerfahrungen in Allgemeinmedizin könnten tatsächlich auch mehr jungen Ärztinnen und Ärzten den Weg in die Allgemeinmedizin bahnen. Könnte Medizin auch in Bozen studiert werden, würden sicherlich mehr Junge in Südtirol bleiben. Bozen braucht eine eigene Medizinfakultät.“ Prof. Dr. Christian Wiedermann
„Ich bin davon überzeugt, dass die Gründung einer Medical School in Bozen mit einem innovativen Curriculum und einer starken Verankerung der Allgemeinmedizin in Praxis und Theorie ein zentraler Lösungsansatz wäre, um dem Hausarztmangel entgegenzuwirken.“ Dr. Adolf Engl
Wichtig zu wissen: Die einzelnen Artikel des Gesundheitsblogs des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen werden nicht aktualisiert. Ihre Inhalte stützen sich auf Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Belege, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung verfügbar sind. Gesundheitsinformationen aus dem Internet können eine persönliche ärztliche Beratung nicht ersetzen. Informieren Sie Ihren Hausarzt oder Ihre Hausärztin über mögliche Beschwerden. Weiter…