Trotz des Endes der Corona-Pandemie gibt es keine wesentliche Besserung der psychosozialen Probleme bei Kindern und Jugendlichen in Südtirol. Das ist das zentrale Ergebnis der 3. COP-S-Studie („Corona und Psyche in Südtirol“), die das Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen im April 2023 durchgeführt hat. Die Auswirkungen der Pandemie auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität und die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen scheinen anzuhalten. Laut Umfrage werden sie von anderen Stressfaktoren verstärkt. Dazu zählen der Ukraine-Krieg, die Klimakrise und die übermäßige Nutzung von digitalen Medien.
Die COP-S-Studie 2023
,COP-S’ steht für ,Corona und Psyche in Südtirol’. Schon 2021 und 2022 führte das Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Kinder-und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf COP-S-Studien durch. „Neu war 2023, dass auch die Auswirkungen des Ukraine-Krieges sowie der Klimakrise berücksichtigt und der Konsum digitaler Medien näher analysiert wurden“, sagt Dr. Verena Barbieri, Leiterin der COP-S-Studie und Biostatistikerin am Institut für Allgemeinmedizin. Alle Eltern, deren Kinder eine Schule in Südtirol besuchen, konnten vom 13. bis 30. April 2023 an der anonymen Erhebung teilnehmen. Für Jugendliche ab 11 Jahren gab es im Anschluss an den Elternfragebogen einen eigenen Fragebogen. Die Befragung wurde in Zusammenarbeit mit den Schulämtern der drei Sprachgruppen durchgeführt.„Heuer haben sich mehr als 6.000 Familien an der Studie beteiligt, mehr als 4.500 Fragebögen waren auswertbar. 1.828 Jugendliche haben parallel zu ihren Eltern auch den Selbstreport ausgefüllt“, erklärt Dr. Barbieri. 2022 waren fast 9.200 Fragebögen eingereicht worden, bei der Studie 2021 waren es knapp 7.000.
COP-S 2023: Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick
Bei der „COP-S 2023“-Umfrage (mit identischer Messmethodik wie bei COP-S 2021 und 2022) konnte kein Rückgang der Hinweise auf mentale Gesundheitsprobleme unter Südtirols Kindern und Jugendlichen festgestellt werden. Einzige Ausnahme bilden die Hinweise auf mögliche Depressionen bei Mädchen.
Kinder und Jugendliche, die die Belastung durch aktuelle Krisen (z.B. Ukraine-Krieg und Klimawandel) spüren, machen eine eher kleine Gruppe aus (weniger als 10%), sind jedoch dann, wenn sie sich belastet fühlen, zu fast 70% von mentalen Gesundheitsproblemen betroffen.
Die in der Pandemie mehr gewordenen Bildschirmzeiten haben zu schulischen Zweckenzwar wieder abgenommen, die Verwendung von digitalen Medien zu privaten Zwecken hat sich nach der Pandemie hingegen kaum zurückentwickelt. Vor allem bei Einschlafproblemen, Hinweisen auf mögliche Depressionen und Hinweisen auf emotionale Probleme konnte „COP-S 2023“ einen klaren Zusammenhang mit der vermehrten Nutzung von digitalen Medien herstellen. Dabei dürften Social Media im Vordergrund stehen.
„Trotz des Endes der Pandemie ist laut unserer aktuellen Studie nicht wirklich eine Besserung der für die Pandemie beschriebenen psychosozialen Probleme bei Kindern und Jugendlichen in Südtirol feststellbar“, betont Prof. Dr. Christian Wiedermann, Koordinator der Forschungsprojekte des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. „Entgegen unserer Erwartungen hat die Abnahme der pandemiebedingten Faktoren nicht zu einem entsprechenden Rückgang der gemessenen emotionalen Probleme geführt. Dies deutet darauf hin, dass andere, tiefgreifendere Stressfaktoren eine Rolle spielen, darunter die Klimaangst, der Krieg in der Ukraine, der übermäßige Konsum von digitalen Medien und die Familien schwächenden Belastungen“, erklärt Wiedermann.
Corona: Die psychische Belastung durch die Pandemie geht 2023 stark zurück
Nur mehr 9% der Eltern und 6% der Jugendlichen haben bei der Umfrage 2023 angegeben, dass die Corona-Pandemie die Schüler:innen aktuell ,ziemlich stark’ oder ,sehr stark’ belastet. Weitere 22% der Eltern gaben an, dass die Pandemie ihre Kinder noch ,etwas’ belaste. „Im Jahr 2022 machten noch 25% der an der Studie teilnehmenden Eltern die Angabe, dass die Pandemie ihre Kinder ,ziemlich’ oder ,sehr’ belaste, bei den Jugendlichen sagten dies 23% der Teilnehmenden. Bei unserer Umfrage 2021 gaben dies hingegen 33% der Eltern und 30% der Jugendlichen an. Das zeigt, dass 2023 die Belastung durch die COVID-19-Pandemie sehr stark zurückgegangen ist“, sagt Dr. Verena Barbieri. Jene Kinder und Jugendlichen, die 2023 noch immer die Pandemie-Belastung spüren, sind jedoch zu einem großen Teil von psychischen Schwierigkeiten betroffen: 67% emotionale Probleme, 49% Verhaltensprobleme, 66% Hinweise auf Angststörungen, 50% Hinweise auf mögliches depressives Verhalten. „Diese Studienergebnisse bestätigen, dass Langzeitfolgen der Pandemie bei Kindern und Jugendlichen in jedem Fall ernst zu nehmen sind und konkreter Handlungsstrategien bedürfen“, analysiert Dr. Barbieri.
Krieg in der Ukraine: Ein neuer Stressfaktor
Seit Februar 2022 herrscht Krieg in Europa: 5% der an der COP-S-Studie 2023 teilnehmenden Südtiroler Eltern und 4% der teilnehmenden Jugendlichen gaben an, dass die Jugend ,äußerst’ oder ,ziemlich’ vom Ukraine-Krieg belastet ist. „Jugendliche, die angaben, durch die Ukrainekrise ,ziemlich’ bzw. ,sehr stark’ belastet gewesen zu sein, zeigten vermehrt Anzeichen von psychischen Auffälligkeiten: 43% hatten einen grenzwertigen/auffälligen Gesamtproblemwert, 61% wiesen auf emotionale Probleme hin, 28% auf Hyperaktivität, 39% auf Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen, 55% auf Angstzustände und 28% Hinweise auf mögliche Depressionen“, erklärt Dr. Barbieri.
Klimakrise: Die größte Belastung für die Jugendlichen
Für Südtirols Oberschüler:innen stellt die globale Klimakrise laut COP-S-Studie 2023 die für sie größte Belastung dar, gefolgt von der Corona-Pandemie und dem Ukrainekrieg. 11% der an der Studie teilnehmenden Jugendlichen fühlen sich ,äußerst’ oder ,ziemlich’ von der Klimakrise belastet, laut Elternantworten beträgt die Angst vor der Klimakrise bei den Jugendlichen 7%. „Jugendliche schätzen ihre Angst generell größer ein als ihre Eltern“, sagt Dr. Verena Barbieri. Jugendliche, die 2023 angaben, durch die Klimakrise ,ziemlich’ bzw. ,sehr stark’ belastet zu sein, zeigten vermehrt Anzeichen für psychische Auffälligkeiten. Die Südtiroler Daten müssten in den Kontext internationaler Studien eingebettet werden, unterstreicht Dr. Giuliano Piccoliori, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health. „So ergab eine Studie unter australischen Teenagern bereits im Jahr 2018, dass 70% von ihnen Umweltangst (Eco-Anxiety) oder Sorgen im Zusammenhang mit der Klimakrise verspürt hatten. Darüber hinaus hat die Weltgesundheitsorganisation WHO erkannt, dass Umweltveränderungen – so auch der Klimawandel – die psychische Gesundheit von jungen Menschen beeinträchtigen können“, sagt Dr. Piccoliori.
Digitale Medien: Zusammenhang mit psychischer Gesundheit
50% der Jugendlichen und 53% der Eltern gaben bei der Befragung „COP-S 2023“ an, dass seit Beginn der COVID-19-Pandemie mehr Zeit an Bildschirmen verbracht wurde. „Der Konsum digitaler Medien zu schulischen Zwecken hat sich im Vergleich zu den Vorjahren verringert, doch es gab keine Abnahme der ,Bildschirmzeiten’ zu privaten Zwecken seit 2021“, sagt Dr. Verena Barbieri. „Vor allem bei Einschlafproblemen, positivem Screening auf Depression und Hinweisen auf emotionale Probleme besteht laut unserer aktuellen Studie eine klare Verbindung mit dem vermehrten Konsum von digitalen Medien“, erklärt Dr. Barbieri. Symptome wie bei Depression scheinen vor allem bei Mädchen in Zusammenhang mit der Social–Media-Nutzung zu stehen. „Die Ergebnisse unserer Studie decken sich mit den Daten internationaler Untersuchungen“, bekräftigt Prof. Dr. Christian Wiedermann. „Studien belegen, dass das psychische Wohlbefinden von Jugendlichen seit 2012 weltweit inzwischen deutlich abgenommen hat. Dieser Zeitraum fällt mit der zunehmenden Verbreitung von Social Media und Smartphones zusammen. Deren Nutzung hat soziale Interaktion und Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen grundlegend verändert“, sagt Wiedermann. Die beobachteten Zunahmen von Schlafstörungen, Angstzuständen und diagnostizierten Depressionen würden von der Fachwelt auf exzessives Nutzen von Social Media zurückgeführt, so Prof. Wiedermann.
Symptome wie bei Depression, Angstzustände und psychosomatische Probleme
Seit der ersten Südtiroler COP-S-Studie 2021 sind Hinweise auf mögliches depressives Verhalten im Screening-Test bei den männlichen Jugendlichen gleichgeblieben (jeweils ca. 10% in allen drei Befragungsjahren). Bei den Mädchen haben sich diese zu Beginn der Pandemie deutlich häufigeren Hinweise dagegen gebessert: von 20% (Umfrage 2021) auf 18% (2022) und auf 13% (2023). „Dieser Rückgang ist ein erfreuliches Ergebnis, jedoch ist dies der einzige Bereich, in dem mentale Schwierigkeiten nach der Corona-Pandemie zurückgegangen sind“, analysiert Dr. Verena Barbieri. Die Hinweise auf Angstzustände und auf Verhaltensschwierigkeiten mit Gleichaltrigen sind über die drei Befragungsjahre der Südtiroler COP-S-Studien konstant geblieben und liegen im Test bei je ca. 27,5%. Hinweise auf Verhaltensauffälligkeiten waren von 31% (Umfrage 2021) auf 26% (2022) gesunken, sind 2023 aber wieder auf 29% angestiegen. Der Psyche zugeordnete körperliche Symptome haben 2023 zugenommen. „Die Gründe für die Zunahme der Anzeichen von psychosomatischen Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen sind vielfältig und komplex“, erläutert Prof. Dr. Christian Wiedermann. „Die Zunahme der Häufigkeit von körperlichen Symptomen bei psychosozialer Verunsicherung kann sowohl durch eine verstärkte Aufmerksamkeit auf die Symptome als auch durch den Somatisierungsmechanismus erklärt werden, bei dem psychische Belastungen in Form von körperlichen Beschwerden ausgedrückt werden“, sagt Prof. Wiedermann. „Neueste Untersuchungen zeigen, dass die übertriebene, aktive Nutzung von Social Media auch mit psychosomatischen Beschwerden ursächlich zusammenhängt“, so Wiedermann.
Was tun?
„Auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass an der Wiederholung der Befragung vermehrt jene Familien teilgenommen haben, die von den psychosozialen Problemen betroffen sind, so bleibt die Studie repräsentativ für Südtirol. Auch die Hauptaussage bleibt klar: Die COP-S-Studien 2021, 2022 und 2023 bestätigen, dass psychische Symptome und psychosomatische Probleme bei Kindern und Jugendlichen deutlich häufiger festzustellen sind und aus unterschiedlichen Gründen zunehmen. Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sollte daher eine zentrale Rolle in Südtirols Sozial-, Bildungs-und Gesundheitspolitik einnehmen, um der Jugend eine gesunde und positive Entwicklung zu ermöglichen. Auch Kinder und Jugendliche stellen sich in den Praxen der Kinder-und Hausärztinnen und -ärzte meist mit körperlichen Beschwerden vor, die nicht selten psychosozial mitbedingt sind. Dies wird häufig nicht angesprochen“, sagt Dr. Adolf Engl, Präsident des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen. „Kurzfristig kann als Handlungsempfehlung eine vermehrte Wachsamkeit vorgeschlagen werden. Bei Verdacht auf psychische Schwierigkeiten sollte das Thema umgehend angesprochen werden und professionelle Unterstützung gesucht werden“, so Dr. Verena Barbieri. „Weil sich psychosoziale Auffälligkeiten auch außerhalb der Familie zeigen, sollten Schulen und Gesundheitsdienstleister:innen über genügend Ressourcen verfügen, um Kinder und Jugendliche auf Anzeichen von mentalen Gesundheitsproblemen zu screenen und frühzeitig angemessene Unterstützung anbieten zu können“, sagt Prof. Dr. Christian Wiedermann. „Es geht nicht darum, die Last auf die Lehrkräfte zu verlagern, sondern darum, die Schulgemeinschaften sowie Sozial-und Gesundheitseinrichtungen in ihren Bemühungen zu stärken. Wir sehen Schulen nicht als alleinigen Ort der Lösung für diese Probleme, sondern als wichtige Partner in einem größeren Netzwerk, das vor allem Familien unterstützt und entlastet“, betont Prof. Wiedermann.
Wichtig zu wissen: Die einzelnen Artikel des Gesundheitsblogs des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen werden nicht aktualisiert. Ihre Inhalte stützen sich auf Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Belege, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung verfügbar sind. Gesundheitsinformationen aus dem Internet können eine persönliche ärztliche Beratung nicht ersetzen. Informieren Sie Ihren Hausarzt oder Ihre Hausärztin über mögliche Beschwerden. Weiter…