Während der Coronapandemie hat die Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Beruf die psychische, physische und finanzielle Belastung der Eltern ansteigen lassen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Onlineumfrage, die vom Institut für Allgemeinmedizin und Public Health, der Hochschule München und dem Südtiroler Sanitätsbetrieb durchgeführt wurde.
Nach fast zwei Jahren Corona-Pandemie sind neuerliche Schul- und Kindergartenschließungen noch immer nicht vom Tisch. Die durch die Verbreitung der hochansteckenden Omikron-Variante zuletzt rasant gestiegenen Infektionszahlen, führen aktuell zur Quarantäne zahlreicher Kindergartengruppen und Schulklassen. Wie sich Familien organisieren, wenn sie durch Schließungen kurzfristig auf sich allein gestellt sind und wie es den Familienmitgliedern dabei geht, das zeigt die quantitative Onlineumfrage „Who is watching the children“, die während des Lockdowns im Februar 2021 in Südtirol durchgeführt und im Oktober 2021 im International Journal of Environmental Research and Public Health veröffentlicht wurde.
Im Befragungszeitraum, der Woche vom 25. Februar bis zum 1. März 2021, waren in Südtirol erneut Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen geschlossen, Kontakte außerhalb der Familie waren verboten. Nur wenige Berufsgruppen hatten Anrecht auf Notbetreuung für ihre Kinder.
An der Umfrage, die vom Institut für Allgemeinmedizin und Public Health der Landesfachhochschule für Gesundheitsberufe Claudiana in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen der Hochschule München und dem Südtiroler Sanitätsbetrieb durchgeführt wurde, haben sich 3.725 berufstätige Eltern beteiligt.
Im Zeitraum der Umfrage waren in Südtirol nicht nur die Schulen geschlossen: Es galt ein strenger Lockdown, Kontakte außerhalb des eigenen Haushaltes waren nicht gestattet. Trotz der Beschränkungen gaben 53 Prozent der befragten Eltern an, Verwandte und Bekannte mit der Kinderbetreuung beauftragt zu haben. Alleinerziehende mussten häufiger auf diese Strategie zurückgreifen. Insgesamt konnten bereits im Februar 2021 nur noch 13 Prozent der Befragten auf bezahlten Urlaub zurückgreifen.
Um Familie und Beruf weiter unter einen Hut zu bringen, sah sich über die Hälfte der befragten Eltern gezwungen, Angehörige und Bekannte in die Kinderbetreuung zu involvieren und dabei in die „Illegalität“ abzudriften.
Barbara Plagg, Humanbiologin und Leiterin der Studie
„Das Ergebnis zeigt klar, dass sich viele berufstätige Eltern bereits ein Jahr nach Pandemie-Beginn schlicht nicht mehr an die vorgeschriebenen Isolationsmaßnahmen halten konnten. Um Familie und Beruf weiter unter einen Hut zu bringen, sah sich über die Hälfte der befragten Eltern gezwungen, Angehörige und Bekannte in die Kinderbetreuung zu involvieren, in 79 Prozent der Fälle waren es die Großeltern. Sobald Bildungsinstitutionen geschlossen sind und Eltern — bei gleichzeitigem Kontaktverbot außerhalb der Familie — sich selbst überlassen werden, driftet ein Prozentsatz notwendigerweise in die „Illegalität“ ab und bindet trotz Verbots Dritte ein, um den Erhalt der eigenen Arbeit garantieren zu können und die Kinder nicht unbeaufsichtigt zu lassen“, sagt Barbara Plagg, die Leiterin der Studie und Wissenschaftlerin am Institut für Allgemeinmedizin und Public Health. „Das kann zum Problem werden, weil Eltern beispielsweise Risikogruppen in die Betreuung einbinden müssen — wie etwa die Großeltern, die zum Zeitpunkt unserer Erhebung großteils noch nicht geimpft waren — oder weil aus Angst vor Sanktionen im Falle von Infektionen Kontakte möglicherweise verschwiegen werden“, erklärt Plagg.
Mehrfache Bewältigungsstrategien
Neben der Kinderbetreuung durch Familie oder Bekannte, versuchten 35 Prozent der befragten Eltern, sich mit der Betreuung der Kinder und der beruflichen Tätigkeit abzuwechseln. 23 Prozent der Studienteilnehmer:innen gaben an, dafür in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden gearbeitet zu haben. Laut Studie haben auch ältere Geschwister eine wichtige Rolle bei der Betreuung gespielt: 13 Prozent der Eltern gaben an, dass während des Lockdowns die älteren Kinder häufig die Betreuung der jüngeren Geschwister übernommen haben. 25 Prozent der Befragten ließen ihre Kinder aus Mangel an Optionen unbeaufsichtigt.
Laut der Humanbiologin Barbara Plagg wird keine dieser Strategien dem Kindeswohl gerecht und Eltern können die Mehrfachbelastung auf Dauer nicht durchhalten:
Besonders arbeitstätige Alleinerziehende stehen praktisch vor einem unlösbaren Dilemma: Wie sollen sie denn gleichzeitig arbeiten und alleine auf ihr Kind schauen?
Barbara Plagg, Humanbiologin und Leiterin der Studie
Ähnliche Dynamiken seien bei den aktuellen Quarantänebestimmungen zu erwarten, warnt die Studienleiterin, da sich berufstätige Eltern wieder unter großem Druck organisieren müssen, um einerseits das Einkommen zu erhalten und andererseits das Kind zu betreuen. „Wenn ein negativ-getestetes Kind in Quarantäne ist, weil es z.B. einen positiven Fall in der Kindergartengruppe gab, ist zwar nur das Kind selbst und nicht die Eltern in Quarantäne, es kann aber natürlich nicht alleine gelassen werden. Die Sonderelternzeit greift in vielen Fällen nicht, Homeoffice und Kinderbetreuung sind — wie unsere und zahlreiche weitere Studien inzwischen aufzeigen — nicht vereinbar. Zudem bleibt das Einbinden von Dritten in die Betreuung von Kindern in Quarantäne, die sich potenziell in der Inkubationszeit befinden, trotz Impfung ein Risiko. Die Dauerbelastung der Eltern – beispielsweise durch nächtliches „Vorarbeiten“ oder Schichtwechsel mit dem*r Partner:in – ist inzwischen für einen Großteil gesundheitlich nicht mehr tragbar.“
Auswirkungen auf Eltern und Kinder
Bereits nach einem Jahr in der pandemiebedingten Ausnahmesituation hat die Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Beruf bei Eltern die psychische, physische und finanzielle Belastung ansteigen lassen:
- Während nur 5 Prozent der befragten Eltern angaben, vor Ausbruch der Corona-Pandemie psychisch belastet gewesen zu sein, waren es im Befragungszeitraum 63 Prozent.
- In der untersuchten Kohorte ist die körperliche Belastung der Eltern von 4 Prozent auf 27 Prozent angestiegen
- und auch die finanzielle Belastung der Familien ist von 2 auf 21 Prozent gestiegen.
Besonders bei älteren Kindern haben Eltern während der Schulschließung im Zeitraum Februar-März 2021 eine höhere Belastung und ein niedriges Wohlbefinden bemerkt. Die weiterführende repräsentative Studie COPSY des Instituts hat in der Folge bestätigen können, dass die Lebensqualität von Jugendlichen und Kindern erheblich unter den wiederholten Lockdowns gelitten hat.
Handlungsvorschläge
Für Eltern und für Kinder ist die Zeit der Schul- und Kindergartenschließung gesundheitsbelastend. Die Schließung eignet sich daher als temporäre Notfallmaßnahme, aber nicht als langfristige Bewältigungsstrategie. Kinderbetreuung darf nicht in die Illegalität abdriften, weil arbeitstätige Eltern und insbesondere Alleinerziehende keine anderen Optionen haben, vielmehr braucht es arbeitsrechtliche Absicherungen, die über die Sonderelternzeit hinausgehen und transparente Informationen, wie sich Eltern eigenverantwortlich im Lockdown und bei Quarantäne eines Kindes verhalten sollen.
Familien benötigen in Lockdown- und Quarantäne-Phasen mehr Unterstützung und die Quarantänedauer für Kleinkinder ohne Symptome sollte reduziert werden.
Im Hinblick auf die aktuellen Zahlen unterstreichen die Autor:innen, dass eine Anpassung der Quarantänedauer auf die kürzest mögliche und nur absolut nötige Zeit, auch für ungeimpfte, negativ getestete und symptomlose Kinder unter fünf Jahren gelten sollte. Insgesamt erachten es die Verfasser:innen der Studie als dringend notwendig, Familien während der Lockdown-Phasen und bei Quarantäne mehr zu unterstützen. Nur so können berufstätige Eltern ihren Beruf weiter ausführen oder ohne Angst um die Arbeitsstelle pausieren und Kinder können altersgerecht betreut werden. Das Infektionsrisiko und damit auch weitere Folgeschäden werden dadurch verringert.
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