Während der Feiertage informiert der Mediziner Michael M. Kochen über die neuen Omikron-Variante und die bevorstehende durchaus bedrohliche Situation.
Der deutsche Mediziner Prof. Dr. med. Michael M. Kochen präsentiert in seinem Newsletter MMK-Benefits regelmäßig hausärztlich relevante Studienergebnisse. Prof. Kochen. hat sein Newsletter dem Institut für Allgemeinmedizin und Sonderausbildung zu Verfügung gestellt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
Obwohl heute Weihnachten beginnt und die meisten von Ihnen mit Ihren Familien zusammen sind, wage ich es, Ihnen noch einen kurzen Ausblick auf die vor uns stehende, durchaus bedrohliche Situation durch die Omikron-Variante zu geben.
Die Entwicklung der Inzidenzzahlen wird anschaulich durch die nachfolgende Grafik vermittelt, die gestern (in einem Artikel von Hanno Charisius, Markus Hametner, Sören Müller-Hansen und Benedict Witzenberger) in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde
Die abfallende Inzidenz (hellblau) gehört zu Delta und die sich „im Untergrund“ aufbauende Inzidenz (orange bzw. rot) zu Omikron.
- Die Verdopplungsgeschwindigkeit, die im UK oder in Dänemark eher bei 2 Tagen liegt, beträgt bei uns vielleicht noch drei oder vier Tage. Der Ausbruch nach oben könnte also noch einige Tage dauern (verzögernd dürfte auch die im Vergleich zu anderen Ländern fortgesetzte Maskenpflicht in Läden oder dem öffentlichen Nahverkehr wirken).
- Später dürfte sich die Entwicklung des Infektionsgeschehens in den europäischen Ländern angleichen, wobei die Seroprävalenz in der Bevölkerung (also die Zahl der Menschen, die als Zeichen einer durchgemachten Covid-19-Erkrankung positive Nukleosid-Antikörper aufweisen) im UK um ein Vielfaches höher ist als in Deutschland.
- Das RKI hat im gestern (23.12.2021) publizierten Wochenbericht 3198 COVID-19-Fälle Omikron zugeordnet, was einem Zuwachs von 34% (+ 810 Fälle) gegenüber dem Vortag entspricht.
Im UK sahen die Zahlen so aus:
- Die Ausbrüche in Norwegen und Dänemark Ende November sind inzwischen publiziert https://t1p.de/alt8; https://t1p.de/k90xj. Vielleicht interessieren Sie sich aber auch für die Faröer-Inseln – dort haben sich 21 von 33 geboosterten Mitarbeiter/innen des Gesundheitsdienstes des Landes angesteckt https://t1p.de/maou.
- Dass die moderat niedrigere Pathogenität (geringere stationäre Behandlungsbedürftigkeit) von Omikron im Vergleich zu Delta ein Entspannungssignal sendet, erscheint mir fraglich (siehe dazu in den letzten Tagen publizierte Preprints, z.B. https://t1p.de/omyf; https://t1p.de/j93w).
Für den Verlauf dieser fünften Infektionswelle dürfte weniger eine niedrigere Krankheitsschwere als vielmehr die enorm hohe Ansteckungsrate (nach bisherigen Daten 2 – 3 x so hoch wie Delta) entscheidend sein.
Julia Merlot und Patrick Stotz (Spiegel, 19.12.2021) haben das mit folgenden Worten erklärt:
- „Geht man davon aus, dass bei einer Virusvariante ein Infizierter im Schnitt zwei Menschen ansteckt, dann werden ausgehend von einem Indexfall zunächst 2 Neuinfektionen gemeldet. Daraus entwickeln sich 4, dann 8, dann 16, dann 32 neue Fälle – und so weiter. Angenommen, 25 Prozent davon würden schwer erkranken, dann gäbe es nach 32 Infektionen 8 Schwerkranke.
- Mit einer doppelt so ansteckenden, aber halb so krankmachenden Variante würden sich ausgehend von einem Indexfall im gleichen Zeitraum erst 4 Menschen anstecken, dann 16, im nächsten Schritt 64, schließlich 256 und später 1024. Auch diese Reihe lässt sich lange fortsetzen. Erkranken von den 1024 nur 12,5 Prozent schwer, sind das noch immer 128 Schwerkranke und damit im gleichen Zeitfenster sechzehnmal so viele wie im Szenario mit der weniger ansteckenden Mutante. Je weiter man die Zeitreihe rechnet, desto größer wird der Unterschied“.
Die Ursache für die massiv erhöhte Ansteckungsfähigkeit ist vermutlich eine Kombination aus zwei Faktoren:
- Einer stark erhöhten Bindungsaffinität zwischen Omikron (besonders der Rezeptorbindungsdomäne [RBD] an der Spitze des Spikeproteins mit seinen zahlreichen Aminosäureänderungen) und dem Angiotensin Converting Enzym 2 der Wirtszelle. Das führt zu einem effizienteren Eindringen des Virus. Zur Illustration s. folgende Abbildung
- Der Fähigkeit der Variante, dem Immunschutz aus einer früheren Covid-19-Erkrankung bzw. Impfungen zu entkommen („immune evasion“).
Eine Boosterimpfung kann in vielen Fällen die vorbestehende Immunität gegen Delta weitgehend wieder herstellen – gegen die Omikron-Variante aber fällt dieser Schutz gegen schwere Erkrankungsverläufe schwächer aus.
Wenn durch die immens hohe Ansteckungsfähigkeit von Omikron sehr viele Menschen zeitgleich infiziert werden (die Rede ist von mehreren Hunderttausend pro Tag!), dann dürften folgende Entwicklungen drohen:
- Krankenhäuser und insbesondere Intensivstationen könnten durch die Vielzahl von Covid-19-Kranken u.U. an den Rand ihrer Funktionsfähigkeit kommen oder sie überschreiten. Das CDC hat gestern (23.12.2021) die Arbeitsbedingungen für infiziertes medizinisches Personal „erleichtert“:
„Healthcare workers with COVID-19 who are asymptomatic can return to work after 7 days with a negative test, and that isolation time can be cut further if there are staffing shortages“ und
„Healthcare workers who have received all recommended COVID-19 vaccine doses, including a booster, do not need to quarantine at home following high-risk exposures“ https://t1p.de/1v95.
- Praxen würden durch eine Vielzahl von erkrankten (und isolierten bzw. in Quarantäne befindlichen) Ärztinnen/Ärzten und MFA massiv überlastet sein – im schlimmsten Fall vorübergehend schließen müssen. Siehe zum Thema auch den Bericht der New York Times https://t1p.de/l57o.
- Das UK hat soeben die Isolationszeit von 10 auf 7 Tage verkürzt – an den Tagen 6 und 7 sollten Schnelltest negativ ausfallen. Diese Neuregelung wird vom britischen Gesundheitsminister und den Experten im Lande als „guter Kompromiss“ bezeichnet…
- Durch viele erkrankte/isolierte Mitarbeiter/innen könnte die Funktionsfähigkeit der kritischen Infrastruktur (z.B. Strom-/Wasser-/Spritversorgung Lebensmittelanlieferung, Polizei, Feuerwehr etc.) gefährdet sein. In den Bundes- und Landesministerien soll fieberhaft an entsprechenden Notfallplänen – unter Einsatz von Bundeswehrverbänden – gearbeitet werden.
- Wie die New York Times soeben meldet, sind zu Weihnachten weltweit bereits 2.000 Flüge storniert worden, weil sich die Mitarbeiter/innen angesteckt haben https://t1p.de/ygi1.
Am 19.12.2021 hat der neue 19-köpfige Corona-Expertenrat der Bundesregierung seine erste Stellungnahme publiziert https://t1p.de/68vn. Darin heißt es u.a.:
- „… ergibt sich Handlungsbedarf bereits für die kommenden Tage. Wirksame bundesweit abgestimmte Gegenmaßnahmen zur Kontrolle des Infektionsgeschehens sind vorzubereiten, insbesondere gut geplante und gut kommunizierte Kontaktbeschränkungen.
- Alle Modelle zeigen, dass Boosterimpfungen alleine keine ausreichende Eindämmung der Omikronwelle bewirken, sondern zusätzlich Kontaktbeschränkungen notwendig sind.
- Die Omikronwelle lässt sich in dieser hochdynamischen Lage nur durch entschlossenes und nachhaltiges politisches Handeln bewältigen“.
Zwei Tage später, am 21.12.2021 schalteten sich Bundeskanzler und Länderchefinnen zusammen. In dem gefassten Beschluss https://t1p.de/2tuf wird …appelliert, …gebeten, …erinnert und …begrüßt:
- „Spätestens ab dem 28. Dezember 2021 werden in den Ländern, die von der Länderöffnungsklausel Gebrauch gemacht haben, Clubs und Diskotheken („Tanzlustbarkeiten“) in Innenräumen geschlossen, Tanzveranstaltungen verboten. Überregionale Großveranstaltungen finden spätestens ab dem 28. Dezember 2021 ohne Zuschauer statt“.
Wahrhaftig wirksame Beschlüsse… Respekt!
Am selben Tag, unmittelbar vor dem Bund-Länder-Treffen veröffentlichte das RKI ein warnendes Strategiepapier mit 19 klaren Handlungsempfehlungen („ControlCOVID – Strategie-Ergänzung zur Bewältigung der beginnenden pandemischen Welle durch die SARS-CoV-2-Variante Omikron“). Bitte lesen Sie diesen kurzen Text unter https://t1p.de/lunv.
- Das Papier sorgte für erhebliches Aufsehen, denn Verlautbarungen der Bundesoberbehörde RKI müssen üblicherweise mit dem Dienstherrn, dem Bundesgesundheitsminister, abgestimmt werden, was in diesem Fall aber offenbar unterblieb.
- BMG Karl Lauterbach (der die Benefits übrigens seit vielen Jahren mitliest) ist augenscheinlich in die Kabinettsdisziplin eingebunden und kann/will offenbar nicht mehr so unbefangen sprechen wie zuvor.
- Wie auch immer ein möglicher Dissens zwischen dem RKI-Chef Lothar Wieler (selbst Mitglied im Expertenrat) und dem BMG zu interpretieren ist: Aus meiner Sicht verdient Prof. Wieler uneingeschränkten Applaus für seine Zivilcourage. Chapeau!
- Heute hat der RKI-Chef dem Redaktionsnetzwerk Deutschland ein beachtenswertes Interview gegeben, in dem er seineForderungen nach sofortigen Kontaktbeschränkungen bestärkt https://t1p.de/0nlg.
Was kann man als Einzelne/r tun, um sich vor den Gefahren der Omikron-Welle zu schützen?
Wer noch keine Booster-Impfung hat, sollte sich schleunigst um einen Impftermin bemühen. Geboostert werden kann ab 18 Jahren bereits ab drei Monaten Abstand zur zweiten Dosis der Grundimmunisierung, wie die STIKO gerade verlautbarte. Ein Booster wirkt allerfrühestens nach einer Woche.
- Reduzieren Sie so weit wie möglich alle Kontakte außerhalb Ihrer Familie / Ihres Arbeitsplatzes.
- Tragen Sie bei allen Gelegenheiten (auch in Aufzügen und im Freien, wenn Sie vielen Menschen begegnen) eine FFP2-Maske, die besser schützt als eine OP-Maske. Das Tragen einer Maske entbindet nicht vom Einhalten eines Abstandes, die bei der hochansteckenden Omikron-Variante eher 2-3 Meter als 1.5 Meter betragen sollte.
- Wenn Sie sich mit (möglichst wenigen) anderen Menschen treffen, testen Sie sich am selben Tag (möglichst nahe am Termin) mit einem der gut abschneidenden Schnelltest aus der Prüfliste des BfarM (alle Antigentests sind auch für Omikron geeignet) https://t1p.de/ta9fn. Rechnen Sie damit, dass solchen Testkits nicht mehr oder nur mit erheblicher Zeitverzögerung lieferbar sind.
- Lüften Sie den Raum des Treffens alle 20-30 Minuten quer, auch wenn es draußen kalt ist. Ein Treffpunkt in freier Luft ist immer riskoärmer als in einem geschlossenen Raum.
- Wenn Sie bei positiv ausgefallenem Schnelltest eine PCR-Bestätigung brauchen, erkundigen Sie sich vorher über die verfügbaren Teststellen an Ihrem Wohnort und rechnen Sie mit erheblichen Wartezeiten. Sollten Sie an diesem Punkt scheitern, isolieren Sie sich, als ob Sie eine bestätigte Covid-19-Erkrankung hätten.
- Entwickeln Sie respiratorische Symptome, sollten Sie umgehend einen PCR-Test machen lassen, auch dann, wenn der Schnelltest vorher negativ ausfällt. Rechnen Sie mit den identischen Hürden wie zuvor beschrieben.
- Die momentan noch gültigen Entlasskritrien des RKI für Patienten mit leichtem oder mildem/ moderatem Krankheitsverlauf und ungestörter Immunkompetenz https://t1p.de/p9rl: Mindestens 14 Tage seit Auftreten der ersten Symptome; nachhaltige Besserung der akuten COVID-19-Symptomatik gemäß ärztlicher Beurteilung seit >48 h, negativer Antigentest). Ob das wie im UK geändert wird, wird man sehen.
- Weitere Hinweise des RKI zum ambulanten Management von COVID-19-Verdachtsfällen und leicht erkrankten bestätigten COVID-19-Patienten (30.11.2021) finden Sie unter https://t1p.de/tdzu.
- Bestehen bei einer Covid-19-Erkrankung Risiken für einen schweren Krankheitsverlauf (das größte Risiko ist unverändert das Alter, daneben [medikamentöse oder krankheitsbedingte] Immunsuppression, Organtransplantation, schwere Adipositas, Diabetes, COLD, Herz-Kreislauferkrankungen, u.a.m.), können Sie den Einsatz von Medikamenten erwägen, wie sie in der Therapieliste von Josef Pömsl und mir verzeichnet sind (Anlage). Nutzen Sie im Falle einer Infektion von Risikopersonen täglich einen Finger-Pulsoxymeter und dokumentieren Sie die Werte in einer Tabelle.
- Denken Sie daran, dass die meisten monoklonalen Antikörperpräparate auf dem deutschen Markt gegen Omikron unwirksam sind. Ausnahme Sotrovimab, das erst vor wenigen Tagen von der EMA zugelassen wurde. Verfügbarkeit nur über Krankenhausapotheken.
- Das orale Virustatikum Molnupiravir hat – neben ungeklärten Nebenwirkungen – eine enttäuschend niedrige Wirksamkeit (die FDA empfiehlt das Medikament dezidiert nicht als prioritär!); das Pfizer-Präparat Paxlovid, das in Freiburg produziert wird, dürfte in ausreichenden Mengen erst in wenigen Monaten in Deutschland verfügbar sein.
Zum Schluss dieses letzten Benefits des Jahres 2021 darf ich Ihnen noch den nachfolgenden “Cartoon” des Dortmunder Immunologen Carsten Watzl zeigen
Ihnen und Ihren Familien wünsche ich ein entspanntes Fest und eine gute Jahreswende.
Herzliche Grüße
Michael M. Kochen
Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
Emeritus, Universitätsmedizin Göttingen
Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
AG Infektiologie und Leitliniengruppe Neues Coronavirus, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
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